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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Gebirge ausmachte: Wiesen, Bäume, Flüsse, nackte Felswände und Schnee.
    Aber mit dem Schnee stimmte etwas nicht. Er lag nicht, wie es hätte sein müssen, auf den Gipfeln, also unten, sondern am Fuß des Gebirgsmassivs, demnach oben. Eigentlich ist es ja doch richtig, dachte Jonas und er spürte, wie sich in seinem Kopf schon wieder alles zu drehen begann. Schnell wandte er sich ab.
    In diesem Moment hörte er wieder das Scharren. Es kam von der Buche oder vielmehr vom Boden hinter dem Baum her. Ehe Jonas sich aufraffen konnte, um den Urheber dieses lästigen Geräuschs zu entlarven, watschelte ein Rabe hinter dem Stamm hervor.
    Für einen Augenblick standen sich Mensch und Vogel bewegungslos gegenüber, dann sagte der Rabe: »Oh! Du bist endlich wach geworden. Ich dachte schon, du willst ewig hier liegen bleiben.«
    Jonas starrte das rabenschwarze Tier entgeistert an.
    »Du bist auf den Kopf gefallen, nicht wahr?« In der rauen Stimme des Raben schwang Spott mit.
    Jonas öffnete den Mund, versuchte etwas zu sagen, aber es gelang ihm nicht.
    »Na ja, ist auch egal. Ob Bonkas, Malkits oder Menschen – irgendwie seid ihr alle gleich. Es wird bald dunkel und ich will mir noch ein paar Bucheckern suchen. Entschuldige mich also bitte…«
    Mit diesen Worten drehte sich der Rabe um und machte sich wieder auf die Futtersuche. Er verschwand hinter der Buche und erst jetzt konnte Jonas seine Erstarrung abschütteln. Schnell stand er vom Boden auf und folgte dem schwarzen Vogel vorsichtig um den halben Stamm herum. Schließlich blieb er stehen und beugte den Oberkörper vor, gerade so weit, dass er den Raben sehen konnte.
    Der Vogel würdigte ihn keines Blickes. Mit seinen starken Krallen kratzte er hier und da herum, pickte ab und zu zielsicher in die Erde und knackte genüsslich die dreieckigen Früchte der Buche.
    »Hast wirklich du eben zu mir gesprochen?« Jonas’ Stimme drückte tiefsten Zweifel aus.
    »Siehst du irgendjemand anderen, der infrage kommt?«
    Jonas blickte sich vorsichtshalber noch einmal um. »Eigentlich nicht.«
    »Na also, dann sollten wir endlich unser Gespräch etwas niveauvoller gestalten.«
    »Wenn du meinst.« Jonas umrundete den Baumstamm nun vollends und ließ sich in der Nähe des Raben in die Knie sinken. Das Tier besaß – für einen Vogel – eine ungewöhnliche Größe. Sein Gefieder glänzte tiefschwarz; nur wenn man genau hinsah, konnte man einen purpurfarbenen Schimmer erkennen, der an der Unterseite in ein grünliches Schillern überging. Der robuste Schnabel und der keilförmige Schwanz verliehen dem Raben etwas Kraftvolles, die zottigen Halsfedern dagegen ließen eher an einen struppigen Vagabunden denken, der sich mit Witz und List durchs Leben zu schlagen wusste.
    »Was ist? Hast du noch nie einen Kolkraben gesehen?«, brach der Vogel schließlich das Schweigen.
    »Schon«, antwortete Jonas freundlich. »Nur noch nicht ein so prächtiges Exemplar.«
    »Meinst du das ehrlich?«, fragte der Rabe, reckte den Hals und breitete für einen Augenblick seine Schwingen aus.
    »Doch, du bist ein ganz außergewöhnlicher Bursche!« Jonas spürte, dass der Rabe im Augenblick nichts lieber hörte als das. »Ich schätze, deine Flügelspannweite beträgt mindestens vier Fuß.«
    »Das dürfte so ungefähr hinkommen. Ich bin bestimmt größer als jeder Rabe, der jemals seinen Schatten auf die Erde warf!«
    »Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen. Hast du auch einen Namen?«
    »Ich heiße Kraark, Korax Korbinian Kraark. Du darfst dir einen der drei Namen aussuchen.«
    »Vielen Dank… Kraark. Ich heiße übrigens Jonas… Jonas McKenelley.«
    »Angenehm, Jonas. Ich darf dich doch bei deinem Vornamen nennen, oder?«
    »Bitte sehr.«
    »Du bist gerade erst angekommen, stimmt’s?«
    »Wie meinst du das?«
    »Auf Azon.«
    »Wo?«
    »Dachte ich mir.«
    »Ich verstehe kein Wort. Wovon sprichst du überhaupt?«
    »Ich rede von der ›Welt unter dem blauen Kristall‹, Jonas, von Azon!«
    Jonas ließ unauffällig seinen Blick schweifen: In der Ferne sah er das Gebirge am Himmel hängen, in der entgegengesetzten Himmelsrichtung erstreckte sich (so jedenfalls vermutete er) das Meer, dazwischen lagen die sanften Hügel des Graslandes, und alles war durchdrungen von diesem Hauch von Blau. »Die Welt unter dem blauen Kristall«, wiederholte er leise. »Heißt das, ich bin nicht mehr auf der Erde?«
    »Das ist eine Frage, die auf Azon die Gelehrten schon seit Generationen beschäftigt«, stellte

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