Das Echo der Flüsterer
verstehe: Bonkas, Sinnsteine und immer wieder die Wissenden. Kannst du nicht etwas deutlicher werden?«
Kraark beäugte Jonas mit schräg gelegtem Kopf. Es war nicht ganz klar, ob da Zorn, Spott oder Mitleid aus seinen Augen sprach. Schließlich aber sagte er mit erstaunlich sanfter Stimme: »Du musst doch sehr müde sein, Jonas. Es ist zwar schon lange her, dass ich nach Azon kam, aber ich kann mich noch recht gut daran erinnern, wir übel mir damals war. Was hältst du von einem guten Abendessen und einem weichen Bett?«
Jonas sah sich unsicher um. »Kannst du etwa auch zaubern?«
Kraark stieß ein helles, amüsiert klingendes Keckem aus. »Nein. Darin bin ich nicht sehr geübt. Aber wenn du dich stark genug fühlst, noch zwei Stunden zu marschieren, dann können wir in der Farbenstadt all das bekommen, nach dem du dich sehnst.«
Der Marsch durch die Wiesen Azons dauerte mit Sicherheit länger als zwei Stunden. Jonas’ Armbanduhr war bei der Durchquerung des blauen Wirbels stehen geblieben, deshalb ließ sich nicht genau sagen, wie lange sie wirklich unterwegs waren. Wegen Jonas’ Erschöpfung hatte der Rabe darauf verzichtet, vorauszufliegen und die Richtung zu zeigen.
Kraark erwies sich als ein sehr gesprächiger Weggefährte. Er stakste erstaunlich behände neben dem Jungen her. Nur ab und zu flatterte er kurz auf, kehrte aber jedes Mal schnell wieder an Jonas’ Seite zurück. Wie dieser erfuhr, lebte der Rabe schon lange Zeit allein, weswegen er in Sachen Kommunikation einiges nachzuholen hatte.
Der Kolkrabe machte mit seinem Bericht da weiter, wo er unter der Buche aufgehört hatte: bei seiner eigenen Ankunft auf Azon. Auch Korax Korbinian Kraark hatte einst auf der Erde gelebt, in einer verlassenen Gegend Kanadas. In einer Nacht, als die Nordlichter besonders intensiv am Himmel leuchteten, war er von seinem Schlafbaum aufgeflogen, mitten in einen bunten Lichtvorhang hinein. Er wurde durcheinander gewirbelt und stürzte besinnungslos zu Boden. Als er unter dichten grünen Bäumen erwachte, dachte er zunächst, es hätte ihn nur in einen entfernten Teil seines Territoriums verschlagen, aber dann bemerkte er, dass nicht nur die Umgebung sich verändert hatte, sondern er selbst sich auch.
»Bei jedem, der die Grenze zwischen Erde und Azon überschreitet, ist das so«, fügte er bedeutungsvoll hinzu. »Der Kristall nimmt dich auseinander und wenn er dich wieder zusammensetzt, kann er dir etwas hinzufügen oder wegnehmen, ganz wie es ihm beliebt.«
Jonas musste an die Schmerzen denken, die er gespürt hatte, als er durch den Strudel gefallen war. Er hatte wirklich das Gefühl gehabt auseinander gerissen zu werden. Allerdings glaubte er nicht, sich in irgendeiner Weise verändert zu haben.
Kraark erzählte von seiner ersten Zeit auf Azon (mittlerweile lebte er seit über zwanzig Jahren hier). Am Anfang war er noch sehr unsicher gewesen. Er hatte mit einem Mal wie die Menschen denken können, wie sie planen, weinen, lachen, lieben und sogar poetische Verse singen, was sonst nicht zu den Stärken der Raben zählte!
»Alles Neue ist am Anfang schwer zu meistern, selbst die Klugheit!« Kraark lachte. Obwohl, wie er mit Nachdruck betonte, die Raben ohnehin die gescheitesten aller Vögel seien, hatte das Nordlicht, wie er meinte, aus ihm nun einen wahren Weisen gemacht. Auch äußerlich hatte er sich verändert, er schien noch gewachsen zu sein und fühlte sich stark wie nie zuvor.
»Erst viel später erfuhr ich, wie wenige Geschöpfe überhaupt die Grenze zwischen der Erde und Azon überschreiten«, erklärte Kraark mit einer seltsamen Ehrfurcht in der Stimme. »Fast alle von diesen Auserwählten nehmen den Weg durch ein Meeresgebiet, das sich direkt über dem Herzen des blauen Kristalls befindet – ihr Menschen nennt es das Bermudadreieck. Die weitaus meisten Wesen Azons leben genauso wie ihre Vorbilder auf der Erde auch: Sie werden geboren und sterben, ohne sich je allzu viele Gedanken über den Kristall zu machen. Einige jedoch sind ›Kinder des Kristalls‹.« Kraark stieß ein krächzendes Lachen aus. »Nun, sie sind nicht wirklich seine Schöpfungen, wie ich glaube, denn der Kristall ist wohl nur ein seelenloser Stein. Aber sie sind lebendige Abbilder deiner Welt. Manche von ihnen erscheinen als Zerrbilder: größer oder kleiner, bös- oder gutartiger, hässlicher oder schöner. Im Grunde genommen ist die ganze Welt Azon ein Kind des Kristalls, die Berge, Bäume und Tiere, vor allem aber die
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