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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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schließlich verlegen.
    Eine Weile lang schwiegen dann der Junge und der Rabe. Während sich das seltsame Gespann der Farbenstadt näherte, fragte sich Jonas, ob nicht doch eine Veränderung mit ihm vorgegangen war. Schließlich redete er ja mit einem Vogel! Natürlich, auch früher hatte er zu den Tieren gesprochen. Aber im besten Fall hatten sie darauf mit so etwas wie Zutraulichkeit reagiert. Kraark nannte ihn einen »Freund der Tiere«. Und er hatte diese Worte fast wie einen Titel ausgesprochen. Jonas war sich nicht ganz sicher, ob er eine solche Ehre auch verdiente.
    Kraark war wieder aufgeflogen – Jonas konnte ihn wegen seines Gewichts nicht allzu lange tragen –, als der Kiesweg die ersten Häuser erreichte. Jetzt, aus der Nähe, erkannte Jonas, weshalb die Stadt so bunt leuchtete. Die Gebäude bestanden, so weit man sehen konnte, vollständig aus Muscheln!
    Jonas blieb bei dem ersten Haus stehen. Sein Kinnladen war heruntergeklappt und die Augen standen ihm weit offen. Aufgeregt sah er sich nach Kraark um, aber der schien gerade eine größere Runde zu drehen und war nirgends zu entdecken. Kann ja nicht schaden, sich das Haus einmal aus der Nähe anzusehen, dachte Jonas und ging langsam auf das Gebäude zu. Es war rund und schimmerte rosarot.
    Staunend betrachtete er die Wände des Bauwerkes. Die Bonkas mussten wahre Künstler sein, um so etwas fertig zu bringen. Tausende von Muschelschalen waren fast nahtlos aneinander gereiht. Selbst die Fugen zwischen den durchscheinenden Hüllen bestanden aus einer klaren Substanz…
    Jonas hielt den Atem an. Hinter der Wand hatten sich gerade zwei Schemen bewegt. Sie wirkten wie Menschen, jedoch – alles war so unscharf! – irgendwie stimmten die Proportionen nicht ganz.
    »Warum kommst du nicht herein, wenn du dich so für uns interessierst?«
    Jonas zuckte zusammen. Die Stimme hatte ihn völlig überrascht. Kraark gehörte sie nicht, dazu war sie viel zu weich. Sie sprach auch kein Englisch, aber dennoch konnte er sie verstehen, ebenso klar wie die des Raben. Vielleicht war dieses gemeinsame Verstehen einfach allen zu eigen, die unter dem blauen Kristall lebten. Langsam drehte er sich um.
    Es wäre vielleicht etwas übertrieben gewesen, Jonas fassungslos zu nennen, als er die kleine Gestalt sah, die sich da vor ihm aufgebaut hatte. Aber das Bild, das er sich im Gespräch mit Kraark vom Kleinen Volk zurechtgeschustert hatte, musste er nun wohl doch revidieren. Das kleine Wesen war bestimmt kein Gartenzwerg. Seine Schönheit verbot von vornherein einen solchen Vergleich. Andererseits konnte es aber auch kein Kind sein, es sei denn, auf Azon trugen die Kinder Vollbärte und hatten eine starke Brustbehaarung.
    »Es hat sich schon lange kein Wanderer mehr in unsere Gegend verirrt«, sagte der kleine Mann mit glockenheller Stimme. Er schlug sich zweimal mit der flachen Hand auf die Brust und verneigte sich dann. Sein scharf geschnittenes Gesicht und das dunkle wellige Haar verliehen ihm das Aussehen eines der klassischen Helden, wie man sie auf altgriechischen Vasen dargestellt findet. Trotz seiner geringen Größe wirkte der Fremde kräftig und ausgesprochen wohl proportioniert. Er hatte weder den zu großen Kopf noch die manchmal linkische Haltung eines Heranwachsenden, sondern strahlte vielmehr große Würde aus. Dies war auch insofern bemerkenswert, als der kleine Mann nur mit einer Art Wickelrock bekleidet war und ausgesprochen freundlich dreinschaute.
    »Entschuldigung, wenn ich zu neugierig war«, stammelte Jonas. Er war ganz hingerissen von dem Fremden, der ihm gerade bis zur Schulter reichte.
    »Mein Name ist Goldan«, sagte das Männchen und machte mit dem Arm eine einladende Geste. »Willst du nicht doch hereinkommen? Dann können wir uns Geschichten erzählen. Es würde mich interessieren, deine zu hören.«
    Jonas sah sich unsicher nach allen Seiten um. Von Kraark fehlte noch immer jede Spur. Goldans Angebot war wirklich verlockend. Je länger Jonas darüber nachdachte, desto mehr spürte er wieder seine müden Glieder. »Warum eigentlich nicht«, antwortete er schließlich. Kraark würde ihn bestimmt bald aufspüren. Raben haben wache Sinne.
    »Dann komm herein«, meinte Goldan freundlich. »Meine Frau und Tomika werden sich gewiss über deinen Besuch freuen.«
    Ehe Jonas etwas sagen konnte, wurde er schon von kleinen, aber kräftigen Händen in Richtung Eingang geschoben. Unter der halbrunden Tür musste er sich bücken, um nicht mit dem Kopf

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