Das Echo der Flüsterer
anzustoßen.
Als er endlich in dem Wohnraum des runden Muschelhauses stand, staunte er, wie geräumig das Gebäude von innen war. Jonas bemerkte mehrere Durchgänge, die in benachbarte Zimmer führten, die meisten waren mit Vorhängen aus Muschelschnüren verhängt. An den niedrigen hölzernen Möbeln prangten überall Intarsien aus Perlmutt. Das Meer schien für die Bonkas die Quelle zu sein, aus der sie sowohl Rohstoffe für das tägliche Leben wie künstlerische Inspiration schöpften. Sofort fielen Jonas auch die Lampen an den Wänden und der Decke auf, runde Kugeln aus einem milchigen Material. Deshalb also strahlten nachts die Behausungen der Bonkas wie von innen heraus. Die Leuchten gaben ein so gleichmäßiges Licht ab, dass Jonas zuerst an Glühlampen als Lichtspender denken musste. Aber er konnte keine Kabel entdecken. An den Wänden gab es weder Schalter noch Steckdosen. Die Einrichtung unterschied sich doch sehr von der eines modernen amerikanischen Haushalts.
»Darf ich euch unseren Gast vorstellen«, wandte sich Goldan an eine Frau und ein Mädchen, die noch kleiner waren als er selbst. Die Frau besaß seidiges rötlich braunes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte. Sie trug eine ärmellose, mit bunten Perlen bestickte Tunika. Das Mädchen wirkte wie das verkleinerte Ebenbild ihrer Mutter, nur dass seine langen Haare gekraust waren.
Jonas fühlte sich von der Gastfreundschaft dieser kleinen Menschen regelrecht überrumpelt. Er verbeugte sich ungeschickt und sagte verlegen: »Mein Name ist Jonas. Ich bin der Sohn von Robert und Sarah McKenelley. Ich bin hierher gekommen, weil ich meine Eltern suche.«
»Wie aufregend!«, rief die kleine Frau mit angenehm hell klingender Stimme und schlug die Hände vor der Brust zusammen. »Du musst uns unbedingt deine Geschichte erzählen.«
»Das ist Rinka, meine Frau«, sagte Goldan lachend. »Wie dir ja nicht unbekannt sein dürfte, sind die Bonkas ein Volk, das Geschichten fast so sehr liebt wie die eigenen Kinder. Aber Rinka stellt uns alle in den Schatten. Wenn nur der Hauch einer neuen Geschichte in der Luft liegt, dann ist sie nicht mehr zu bändigen.«
»Goldan will ja nur davon ablenken, dass er selbst neugierig wie eine alte Elster ist«, konterte Rinka.
Jonas lächelte höflich. Er hatte seine Befangenheit noch nicht ganz abschütteln können.
Zum Schluss stellte Goldan sein »Herzstück« vor: Tomika, seine Tochter. Sie war erst sechs Jahre alt und beobachtete den großen fremden Knaben wie ein scheues Eichhörnchen einen Fuchs.
Im Handumdrehen wurde Jonas auf ein bequemes Sitzkissen gedrückt, von denen mehrere am Boden lagen. Rinka und Tomika entschwanden in einen Nebenraum – Goldan hatte sie mit Mühe überreden können dem Gast ein Abendbrot zu bereiten, bevor er für alle seine Geschichte zum Besten gab. Der Hausherr selbst schlüpfte schnell in ein langes Gewand, das einem Nachthemd nicht ganz unähnlich war, und leistete Jonas Gesellschaft.
Um sich nicht den Zorn seiner Gattin zuzuziehen, stellte Goldan seinem Gast zunächst keine weiteren Fragen. Er selbst sei der »Wächter von Laomar«, erzählte er mit einem Augenzwinkern. Dass die Farbenstadt keine Mauer besitze, zeige schon den mehr symbolischen Charakter seines Amtes. Die Schelpinherden um Laomar sorgten für ausreichenden Schutz vor wilden Tieren und im Übrigen sei dieser Teil Azons so sicher, dass eigentlich kein Bewacher notwendig sei.
Jonas erinnerte sich an Kraarks Schilderungen und fragte erstaunt: »Habt ihr denn keine Angst vor den Malkits?«
Goldans ebenmäßige Stirn überzog sich mit Runzeln. »Eigenartig, dass du mich das fragst…« Er kraulte sich den Kinnbart. Gleich darauf verflog seine nachdenkliche Miene wieder und er sagte lächelnd: »Zum Glück hat der Kristall unsere Welt in zwei Hälften gespalten: hier die Bonkas, dort die Malkits. Nie würde einer es wagen – selbst wenn er es könnte –, das Grenzgebirge zu unterqueren, deshalb ist eine Stadtmauer auch völlig…«
»Warum würde das niemand wagen?«, unterbrach Jonas den Bonka.
»Du bist ein seltsames Menschenkind«, antwortete Goldan. »Hat dir denn niemand verraten, dass es kein Zurück mehr gäbe?«
»Na ja…« Jonas hatte fast den Eindruck, als würde man ihn hier für jemand anderen halten.
Glücklicherweise ließ sich Goldan nicht die Gelegenheit entgehen seinem Gast etwas Neues zu erzählen. »Kimbaroth, der Vorhang der ewigen Trennung, wurde vor unzähligen Generationen unter dem Herzen
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