Das Echo der Flüsterer
Vielleicht waren diese Prismen und Stäbe so etwas wie Bücher, auf denen die Bonkas ihre Chroniken verzeichneten.
»Das ist der große Saal des Kristallrats«, sagte Goldan feierlich und stieß eine zweiflüglige Tür auf. In der quadratischen Halle stand ein runder Tisch, bestehend aus einer riesigen Kammmuschel mit mindestens dreißig Fuß Durchmesser und einer Platte aus poliertem Kristallglas obenauf. »Kann ich dich für einen Augenblick allein lassen, ohne dass du etwas anstellst?«
»Keine Angst«, erwiderte Jonas spitz. »Ich werde eure Ratstafel schon nicht unter den Arm klemmen und damit abhauen.«
Die schnippische Antwort war nur seiner Übermüdung zuzuschreiben. Er spürte, dass Goldan ihm traute, wie überhaupt nur selten jemand Argwohn gegen ihn hegte. Aber er fühlte sich einfach überfordert. Er hatte seit einer Ewigkeit nicht mehr geschlafen. Er hatte Dinge erlebt, die man selbst einem Märchenerzähler kaum abnehmen würde. Und jetzt stand er hier, in einem schwach beleuchteten Saal, allein an einer riesigen Glastafel, und wartete auf eine Gruppe alter Männer, deren Meinung nach er eigentlich schon viel früher hätte auftauchen sollen.
Goldan nickte ernst und ließ ihn allein.
Griesgrämig ließ sich Jonas auf einen der Stühle fallen, die den großen Glastisch umstanden. Sie besaßen allesamt hohe Rückenlehnen und waren mit dunkelrotem Leder bespannt. An den Armlehnen befanden sich kunstvolle Schnitzereien mit allerlei Meerestieren. Zunächst eher unbeteiligt betrachtete Jonas die herzförmige Muschel, auf der die runde Glasplatte ruhte. Langsam bewegte er seinen Kopf hin und her. Seine Neugier begann sich zu regen. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel man in die Schalenhöhlung sah, schimmerte die silbrige Innenseite in anderen Farben. Die Muschel war riesig! Anfangs hatte Jonas sie für eine Attrappe gehalten, eine vergrößerte Kopie jener kleinen Muschelschalen, aus denen die Bonkas ihre Häuser bauten. Aber ein Künstler hätte bestimmt nach Vollkommenheit gestrebt. Diese gewaltige Muschel aber besaß Unregelmäßigkeiten, wie sie nur die Natur selbst hervorbringen konnte.
Mit neu erwachtem Interesse erhob sich Jonas von seinem Stuhl. Er spazierte im Raum herum und betrachtete die farbigen Bilder und geschwungenen Ornamente an den Wänden. Es erstaunte ihn nun kaum noch, dass diese ebenfalls aus den Behausungen von Schnecken und Muschelschalen hergestellt waren. Das in mehrere Abschnitte unterteilte Mosaik schien irgendeine Geschichte zu erzählen. Jonas erinnerte sich an Goldans Schilderung vom Kimbaroth, dem Vorhang der ewigen Trennung. In diesem Augenblick bemerkte er das Fenster.
Eigentlich war es gar kein Fenster. Jonas konnte nicht sagen, warum er sich mit einem Mal so vorsichtig bewegte. Aber einen Blick auf den Vorplatz oder in irgendeinen Palastgarten konnte man durch diese seltsame Öffnung sicher nicht werfen. Die in Muscheln eingebettete Glasfläche hatte die Form eines lang gezogenen Ovals, einem Spiegel, wie ihn sich manche Leute an die Wand hängen, nicht ganz unähnlich. Doch es handelte sich auch nicht um einen Spiegel, keinen richtigen jedenfalls. Jonas kam der reflektierenden Fläche immer näher. Sein Herz klopfte heftig, ohne dass er sich erklären konnte, warum.
Hinter dem Glas leuchtete ein Licht, nicht mehr als ein schimmernder Fleck mit unscharfen Rändern. Jonas glaubte einen länglichen Schatten wahrzunehmen, aber das Glas spiegelte zu sehr, um Einzelheiten erkennen zu können. Seine Unruhe wuchs. Er musste herausbekommen, was sich hinter dieser Scheibe befand.
Jonas legte die Hände an das Glas und formte einen Ring, auf den er sein Gesicht betten konnte. Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an das Halbdunkel im Innern gewöhnt hatten. Doch dann sah er deutlich, welchen Schatz die Bonkas in diesem versiegelten Alkoven aufbewahrten. Fassungslos taumelte er zurück.
Das konnte nicht sein! Unmöglich! Jonas’ Herz raste mit einem Mal wie verrückt. Er glaubte keine Luft mehr zu bekommen. Alles drehte sich. Zaghaft, als stünde das Glas unter Hochspannung, näherte er sich wieder dem Oval. Er musste noch einmal in die Nische sehen. Vielleicht hatte das schwache Licht seinen Sinnen einen Streich gespielt.
Erschüttert starrte er auf die leblose Gestalt. In dem schmalen Alkoven lag der Körper eines Mädchens. Es trug ein schlichtes malvenfarbenes Kleid, das bis zu seinen Knöcheln herabreichte. Die nackten Füße leuchteten schneeweiß. Der Stoff
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