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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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des Gewandes war so fein, dass man erahnen konnte, wie zerbrechlich der Körper war, den er verhüllte.
    Bestimmt ist das gar kein Mädchen, redete sich Jonas ein. Und sie konnte es erst recht nicht sein. Er versuchte seine Verzweiflung mit logischen Argumenten zu vertreiben: Sie gehört zum Kleinen Volk – ihr zierlicher Wuchs lässt da keinen Zweifel offen. Aber warum hat sie so goldenes Haar? Wenn er sich nur erinnern könnte! Hatten nicht alle Bonkas, die ihm bisher über den Weg gelaufen waren, schwarze, braune, rote oder sogar blaue Haare? Er war sich nicht sicher. Bestimmt war dieses zarte Wesen einmal eine erwachsene Frau… War?
    Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Schlagartig wurde er sich bewusst, dass jenes Geschöpf noch lebte. Er konnte sich dieses Gefühl nicht erklären. Aber bei seinen Eltern erging es ihm ähnlich. Er spürte die Wärme ihres Lebens, so wie man die Sonne fühlt und nie an ihrer Existenz zweifelt, selbst wenn einem die Augen verbunden sind. Aber warum, warum musste das Mädchen dort gerade so aussehen wie Lydia Gustavson?
    Jonas stand noch immer erstarrt vor dem ovalen Fenster, als eine Stimme wie von fern an sein Bewusstsein drang.
    »… sage dir zum letzten Mal, dass du dort weggehen sollst. Warum hat Goldan dich überhaupt allein gelassen?«
    Jonas blinzelte. Es gelang ihm nur schwer, sich über die Bedeutung der Worte klar zu werden, die er gerade vernommen hatte. »Ich…« Der erste Versuch einer Antwort scheiterte kläglich.
    Krem, der persönliche Diener des Oberältesten Belkan, war inzwischen bei Jonas angelangt und packte energisch seinen Arm. Jonas ließ sich widerstandslos auf einen Stuhl verfrachten, den Krem von der Tafel zog. »Du bleibst jetzt hier sitzen. Belkan und die anderen Ältesten werden gleich kommen. Du wirst sie mit Respekt behandeln, hast du verstanden?«
    Jonas blickte in das Gesicht des spindeldürren Männleins. Was er sah, wirkte nicht besonders bedrohlich, aber er nickte trotzdem ergeben. Er war völlig verstört. Der Anblick des Mädchens mit den langen goldenen Haaren hatte ihn zutiefst erschüttert.
    »Was machst du denn da mit unserem Gast?«, ertönte unvermittelt eine tiefe, etwas raue Stimme aus dem Hintergrund.
    Darauf wusste Krem nicht recht zu antworten. Oder er wollte nicht. Möglicherweise hatte er in seinem Diensteifer etwas über die Stränge geschlagen und fürchtete nun einen Tadel seines Herrn. Eingeschüchtert zog er sich von dem verdächtigen Objekt zurück, ohne es jedoch aus den Augen zu lassen.
    Jonas hob müde den Kopf und erblickte einen alten Mann. Er war genauso klein wie alle anderen Bonkas, aber er strahlte eine gewisse väterliche Autorität aus, der man sich nicht entziehen konnte. Der Alte besaß einen grau melierten Vollbart, war um die Körpermitte etwas rundlich und bewegte sich mit der Behäbigkeit eines alten Elefanten. Als er Jonas’ Stuhl erreicht hatte, lächelte er herzlich und sagte: »Mein Name ist Belkan und wer bist du?«
    Jonas hatte bereits Ähnliches vermutet, denn die Kleidung des alten Mannes konnte nur einem hohen Würdenträger gehören. Der Älteste trug ein weißes, reich besticktes Untergewand aus Wildseide, das in der Bauchgegend von einer dunkelblauen Schärpe zusammengehalten wurde. Ein langer, vorn offener Mantel, der wie Perlmutt glänzte, vervollständigte die Garderobe.
    Jonas erhob sich von seinem Stuhl, verbeugte sich höflich und nannte seinen vollständigen Namen. Krem, der sich unauffällig im Hintergrund hielt, verfolgte dabei argwöhnisch jede seiner Bewegungen.
    »Wie man mir sagt, kommst du gerade aus der Spiegelregion?«, erkundigte sich Belkan.
    »Wie bitte?«
    »Oh, entschuldige.« Der Älteste lächelte nachsichtig. »Diese Begriffe sind mir in Fleisch und Blut übergegangen, aber für einen Wanderer, der gerade erst angekommen ist, muss das alles ziemlich verwirrend sein.«
    Jonas entspannte sich etwas. Der alte Mann wirkte sehr freundlich. »Ich bin unter einem blauen Gewölbe erwacht. Die Gegend war voll von Kristallen. Und beinahe wäre ich von einem Nashorn platt gewalzt worden.«
    Belkan nickte nachdenklich. »Ich verstehe. Das ist die Spiegelregion. Du hast gut daran getan, das Gebiet so schnell wie möglich zu verlassen.«
    »Das alles ist so… so…« Jonas wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte, aber seine ganze Verzweiflung brach nun aus ihm heraus: »Warum bin ich überhaupt hier? Goldan sagte, man würde schon auf mich warten. Das kann doch gar nicht

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