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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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morgen früh.«
    »Nicht morgen«, widersprach Syrda. »Jetzt!«
    »Aber es ist spät. Wir sind müde. Wir haben hitzig debattiert. Unsere Gefühle könnten…«
    »Gefühle sind genau das, was ihr jetzt braucht«, unterbrach Syrda den Oberältesten streng. »Ihr habt die halbe Nacht euren Verstand sprechen lassen. Erinnert euch endlich wieder, dass ihr Bonkas seid. Die wahren Flüsterer! Keine Geschichte besitzt wirklich Macht, wenn sie nicht aus dem Herzen kommt. Gerade jetzt ist der richtige Augenblick: Der Knabe soll seine Geschichte erzählen.«
    Belkan blickte fragend in die Runde seiner Mitältesten. Keiner wagte zu widersprechen. Erstaunlicherweise sagte sogar der zuvor so argwöhnische Arjoth: »Syrda hat nur ausgesprochen, was bei uns Gesetz ist. Ich finde, der Knabe sollte seine Chance bekommen.«
    »Also gut«, meinte Belkan. »Dann wollen wir erneut an der Tafel Platz nehmen. Jonas McKenelley, würdest auch du dich bitte wieder an den Tisch setzen?«
    Jonas nickte und begab sich zu seinem Platz zurück. Hier und da wurden ein paar Worte gewechselt, leises Gemurmel erfüllte den Raum.
    »Ich habe keinen blassen Schimmer, was ich eigentlich erzählen soll«, flüsterte Jonas dem Raben zu.
    »Eine Geschichte, die dir sehr wichtig ist«, antwortete Kraark.
    »Was für eine Geschichte denn? Etwa ein Märchen?«
    »Nein. Kein Märchen. Es sei denn, es bewegt dein Herz wie sonst nichts auf der Welt. Erzähle, was dich wirklich berührt. Es kann dich zum Lachen oder zum Weinen bringen. Das ist ganz egal.«
    Inzwischen saßen wieder alle und Belkan sorgte mit einer Geste für Ruhe. »Vielen Dank, Brüder.« Sein Blick streifte die funkelnden Augen der Alten und er fügte schnell hinzu: »Und auch dir sei Dank, Syrda. Wir wollen nun der Geschichte des Wanderers lauschen und uns dann unser Urteil bilden.«
    Jonas blickte unsicher in die Runde. Ihm war noch immer nicht ganz klar, was man von ihm verlangte.
    Syrda bemerkte seine innere Anspannung und sagte mit unerwartet sanfter Stimme: »Erzähle uns, was im Augenblick am meisten dein Herz berührt. Hier auf Azon haben die Geschichten des Herzens große Kraft. Sie können Wunder wirken. Hab also keine Furcht, Jonas. Niemand wird über dich lachen.«
    Die Worte der Weisen flößten Jonas neuen Mut ein. Und dann kam ihm ein absurder Gedanke…
    »Ich möchte ihre Hand dabei halten.«
    Alle sahen ihn verständnislos an.
    »Wessen Hand?«, fragte Syrda. Doch schien sie als Einzige zu ahnen, was der Junge meinte.
    »Die Hand des Mädchens hinter dem Glas dort. Ich möchte meine Geschichte für sie erzählen.«
    Nun machte sich Betroffenheit breit. Einige wagten sogar leise zu protestieren.
    »Er soll ihre Hand halten können«, sagte die Alte bestimmt.
    Für einen Augenblick furchte Belkan unwillig die Stirn, doch irgendetwas in Syrdas Gesicht brachte ihn dann doch zum Nachgeben. »Nun gut. Es wird ihr kaum schaden; wir werden alle dabeistehen und ihm zuhören. Aber es wäre eine unverzeihliche Sünde, ihr die einzige Hilfe zu versagen, die ihr vielleicht noch bleibt.«
    Er bedeutete Krem den Alkoven zu öffnen, hinter dem der leblose Körper des Mädchens lag. Der Diener drehte an einem Schneckengehäuse an der Wand, drückte vier Muschelschalen und plötzlich schob sich die Trennwand mit dem eingelassenen Ovalfenster lautlos zur Seite.
    Jonas hatte keine Ahnung, welcher Mechanismus dafür verantwortlich war. Wie schon in Goldans Haus, so konnte er auch hier keine Hinweise auf eine besonders fortschrittliche Technik entdecken. Es gab weder Schalter noch Hebel. Leuchten oder sich wie von Geisterhand bewegende Türen waren einfach da. Sie funktionierten – ohne erkennbare Energiequelle oder irgendwelchen Lärm zu verursachen. Jonas beschlich der Verdacht, hinter dem altertümlichen Äußeren dieser Welt wirke ein überragender Geist. Aber selbst wenn es so war, die Bonkas hatten ihre Wissende, dieses schlafende Mädchen nicht wecken können.
    Der leblose Körper lag auf einem Sockel, der Jonas ungefähr bis zur Hüfte reichte. Die Bonkas hatten ihn auf ein weiches Polster aus karminrotem Stoff gebettet. Jonas trat nun neben das Mädchen und betrachtete sein Gesicht. Sein Herz pochte laut. Jetzt erst konnte er richtig erkennen, wie ähnlich sie Lydia Gustavson wirklich war. Natürlich, sie wirkte noch zierlicher, sie gehörte ja zum Kleinen Volk. Aber das Gesicht, das glatte lange goldene Haar, die zarte Anmut, die sie selbst in ihrem todesähnlichen Zustand noch besaß

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