Das Echo der Flüsterer
Schritte und im nächsten Augenblick stand ein sonderbares Wesen unter der Tür. Bei näherem Hinsehen erkannte Jonas, dass es sich um eine Frau handeln musste. Eine sehr alte Frau! Sie hatte schneeweißes langes Haar, das allen Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen schien und in jede nur erdenkliche Richtung strebte. Ihre Kleidung war sehr bunt. Oberflächlich betrachtet hätte man ihr bis zu den Waden reichendes Gewand für einen Flickenteppich halten können, einen wahren Querschnitt durch einhundert Jahre bonkasischer Textilgeschichte.
Jonas wusste schnell, dass diese seltsame Alte alles andere als eine üble Kräuterhexe war. Er besaß die Gabe sich in ein anderes Wesen hineinzuversetzen und es – gewissermaßen von innen heraus – zu verstehen. Die Frau, die da gerade mit funkelnden Augen in die Männerrunde des Kristallsaals blickte, war eine ausgesprochen starke Persönlichkeit. Sie besaß einen Willen, der sich nur der Wahrheit beugte – und in Bezug auf Kleidung und Frisur gibt es nun mal keine endgültige Wahrheit. Ein Lächeln schlich sich auf Jonas’ Lippen. Die Alte gefiel ihm.
»Syrda! Du?«, rief Belkan, der als Erster seine Fassung zurückgewonnen hatte.
»Wie schön, dass du mich noch kennst, Belkan.« Die Alte lachte, ein Geräusch wie von einem quietschenden Truhendeckel.
»Du hast doch nicht wirklich einen von meinen Helfern in eine…« Belkans Stimme verebbte.
»… Trompete verwandelt?«, beendete Syrda die Frage. Jetzt lachte sie noch lauter. »Du weißt, dass ich dazu gar nicht fähig wäre! Jedenfalls hab ich so was Törichtes noch nie versucht. Ich musste den feisten Jungen da draußen nur aus dem Wege bekommen. Er verstopfte den ganzen Gang und wollte mich nicht vorbeilassen. Im Augenblick dürfte er in irgendeinem Kellerloch stecken und den Ratten sein Leid klagen.«
Belkan atmete erleichtert auf. »Du hast dich seit vierzehn Jahren nicht mehr in unserer Runde blicken lassen. Was treibt dich ausgerechnet heute Abend hierher?«
Syrda grinste den Oberältesten an. »Dasselbe wie euch müde Krieger, Belkan.«
»Ich dachte, du willst mit uns nichts mehr zu tun haben.«
»Ihr habt damals einige Entscheidungen getroffen, denen ich mich nicht anschließen konnte. Ihr bildet den Rat. Ich habe eure Stellung nie angezweifelt. Aber deshalb muss ich mich noch lange nicht zum Narren machen.«
Genau so sieht sie aber aus, dachte Jonas. Syrdas buntes Gewand hätte einem Hofnarren gut zu Gesicht gestanden. Die Frau war, selbst für eine vom Kleinen Volk, ausgesprochen kleinwüchsig. Gebeugt stand sie vor dem Oberältesten, ihre rechte Hand ruhte auf einem knorrigen Stock und ihre schwarzen Augen funkelten wie die eines Raubtieres.
»Und was hat dich nun deine Meinung ändern lassen?«, fragte Belkan. In der Stimme des Ältesten schwang eine hohe Achtung für die Alte mit und Jonas spürte, dass diese Ehrerbietung auch einen Grund hatte.
»Als ich von dem jungen Wanderer hörte, musste ich einfach kommen. Mir war klar, wie ihr über ihn denken würdet. Ihr habt nach einem anderen gesucht, um euer neuestes Scharmützel gegen die Malkits zu gewinnen.« Syrda trat ganz nahe an den anderthalb Kopf größeren Belkan heran und blickte herausfordernd zu ihm empor. »Dieser Junge ist in euren Augen allein deswegen wertlos, weil er unter den Menschen keinen Einfluss hat – jedenfalls keinen, den ihr je erkennen würdet.«
»Und woher willst gerade du wissen, dass mehr in ihm steckt? Du hast dich doch seit Jahren nicht mehr für die Angelegenheiten deines Volkes interessiert.«
»Ihr verwechselt oft leeres Geschrei mit echter Anteilnahme…«
»Etwas mehr Respekt, Syrda! Du sprichst vom Ältestenrat der Bonkas. Auch du hast einmal an der runden Kristalltafel gesessen.«
Für einen Moment senkte Syrda den Blick. Sie wackelte mit dem Kopf hin und her und murmelte eine Entschuldigung. »Vielleicht habe ich nicht die richtigen Worte gewählt, aber dafür habe ich wenigstens etwas getan, während die Geschicke der Menschen den Flüsterern immer mehr aus den Händen gleiten.«
»Du?«, brachte sich Gondik empört ins Spiel. »Was hast du denn für uns oder für die Menschen getan? Seit du dich wie ein Einsiedlerkrebs in dein Schneckenhaus zurückgezogen hast, ist dir doch alles egal.«
Syrda bedachte den Ältesten mit einem Blick, der ihn erschrocken zurückfahren ließ. Dann wandte sie sich wieder Belkan zu. »Es ist richtig, dass ich in der letzten Zeit mein Haus nicht oft verlassen habe. Aber im
Weitere Kostenlose Bücher