Das Echo der Flüsterer
lagen gleichermaßen Zorn wie Sorge. Irgendwo rief jemand nach einem Gewehr.
Ein weiterer Alligator näherte sich, mindestens doppelt so lang wie der vorige. Der Junge sah in der Nähe einen abgebrochenen Ast treiben und griff danach; es gefiel ihm ganz und gar nicht, wie tief die Panzerechse im Wasser lag. Während er das näher kommende Reptil im Auge behielt, rief er zum Ufer hin: »Ich bleibe so lange hier drin, bis ihr mir versprecht heute noch mit der Suche nach Lydia weiterzumachen.«
»Morgen, Junge. Wenn die Alligatoren träger sind, werden wir zurückkommen.« Die Stimme des Generals klang drängend.
Der Alligator war nun höchstens noch drei Armlängen von dem Jungen entfernt. Ein langer Ast hinderte ihn am Weiterkommen. Der Junge – am anderen Ende des Steckens – spürte mit dem ihm angeborenen Instinkt, dass diese Echse auf Beutezug war. Normalerweise ernährten sich die erwachsenen Alligatoren von Fischen und Schildkröten, hin und wieder auch von Vögeln oder kleineren Säugetieren. Doch dieses große Exemplar, das jetzt ein gefährliches Fauchen von sich gab, schien zu dem Schluss gekommen zu sein, auch ein elfjähriger Knabe könne ganz gut schmecken. Wenn es tatsächlich zu einem Angriff kam, war alles verloren. Nicht dass der Junge sich um sich selbst sorgte, er wollte vielmehr eine Verzweiflungstat der Männer verhindern, die sich offenbar vor den Panzerechsen fürchteten. Vor allem aber ging es ihm um Lydia, die jetzt seine Hilfe brauchte.
Aus dem Dunkel in seinem Rücken rief eine Stimme: »Da kommt ein Gewehr.«
Nur das nicht!, dachte der Junge. Ein Schuss aus der Flinte und der Friede des Sumpfes wäre so nachhaltig gestört, dass er das Schlimmste befürchten musste. Wieder hatte er den hartnäckig gegen ihn vorrückenden Alligator mit dem Ast zur Seite gedrängt, als er, darum bemüht, seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu verleihen, zu den Männern hin rief: »Aber seht ihr nicht? Sie sind zwar neugierig, aber sie tun mir nichts. Genauso werden sie euch nichts tun, wenn ihr sie nicht angreift und…«
Der Ast war ihm aus der Hand geglitten (oder hatte der Alligator ihn mit den Zähnen geschnappt?). Das leicht geöffnete Maul der Echse schien ihn anzugrinsen, während sie langsam näher kam. Der Junge erhob sich zu seiner vollen Größe aus dem Wasser und für einen Moment schien das hungrige Reptil zu zaudern. Alle hielten den Atem an.
Plötzlich bemerkte der Junge aus den Augenwinkeln einen riesigen Schatten. Die eine Bedrohung noch immer vor sich, wagte er kaum, den Kopf nach links zu drehen, um dieses gewaltige Etwas zu betrachten. Da ertönte ein Furcht erregendes Brüllen. Es war so tief, so gewaltig, dass der Junge glaubte, der Teich müsse von der Vibration, die er am ganzen Körper spürte, Blasen werfen. Der Alligator vor seiner Nase wich erschrocken zurück und zischte erbost.
Am Ufer herrschte inzwischen ein heilloses Durcheinander. Stimmen, Schritte, unzählige Lichtfinger aus Taschenlampen – alles wirbelte durcheinander. Vereinzelte Wortfetzen drangen an das Ohr des Jungen. Ein Name wurde ständig wie derholt: Old Big Shadow! Old Big Shadow!
Die Indianerlegende hatte Gestalt angenommen und war gekommen, um Toms Enkel am Stück zu verschlucken, diese Ansicht hatte sich offenbar in Dutzenden von Köpfen breit gemacht. Doch der Alligator, der in seiner enormen Länge und Breite den vertriebenen Artgenossen wie ein niedliches Jungtier hatte wirken lassen, glitt lautlos an dem Jungen vorbei. Für einen Moment hatte der das Gefühl, die Augen mit der linsenförmigen Iris würden ihn geradezu neugierig mustern, als dachte die Riesenechse: Wer ist dieser Zwerg, der den Mut besitzt in das Reich von Old Big Shadow einzudringen? Und dann zog sich, ganz kurz nur, die halb durchsichtige Nickhaut über das Alligatorenauge. Wie ein Blinzeln wirkte das und dem Jungen schien es einmal mehr, als lächelten in Wirklichkeit diese majestätischen Tiere mit ihren flachen, hechtartigen Schnauzen.
Dann war der Alligator zwischen Schilf und Ästen verschwunden, dorthin, wo die Scheinwerfer ihm nicht folgen konnten. Das Auftreten Old Big Shadows auf der Szene war so kurz ausgefallen, dass viele es später für einen Traum hielten, eine Vision oder sonst eine Täuschung der Sinne.
Der stille Junge wusste es besser: Der König der Sümpfe war herbeigekommen, um ihm zu helfen.
»Glaubt ihr mir immer noch nicht?«, rief er den Männern am Ufer zu, die kraftlos wie Vogelscheuchen
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