Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
Côte d’Azur? Nein? Ich auch nicht.«
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Das Auto war mein Zuhause, ich hatte einen neuen Freund, auch wenn die Konversation mit ihm einseitig blieb. Wurde ich hungrig, hielt ich an einer Tankstelle und deckte mich mit ungesunden Sachen ein, war ich müde, suchte ich mir ein ruhiges Plätzchen und döste. Mit dem Auto durch Frankreich – Pascals Arbeitsstress hatte nie genug Zeit für so eine Reise gelassen. Immer musste alles gebucht und vorbereitet sein, damit die wenigen Tage, die wir zusammen hatten, perfekt verlaufen würden. Diesmal reichte mein Zeitfenster bis zu Doras Ankunft in Nizza. Ich hatte zwei Tage, um eine Strecke von 900 Kilometern zurückzulegen, stellte mir vor, dass ich mir in der Dämmerung ein Hotel suchen und ein Diner mit regionalen Köstlichkeiten genießen würde. Am nächsten Morgen wollte ich mein Croissant in den Milchkaffee tauchen und bester Laune weiterziehen.
Die Autobahn führte östlich an Orleans vorbei in Richtung Dijon. Je weiter ich nach Süden kam, desto mehr verschwand das flache Land, Wälder begrünten die Hügel, die auf ein kleines Gebirge zuführten. Beim nächsten Halt wurde mir klar, dass ich in einer Weingegend sein musste. Selbst im Tankstellen-Shop wurden Burgunderweine angeboten; ich kaufte eine Flasche. Wenig später erhoben sich links und rechts der Autobahn Wein berge. Ich schaute und genoss, erfuhr währenddessen von meinem Begleiter, dass wir nicht über Dijon mussten, sondern westlich davon nach Süden abbiegen würden.
Welch ein Land! Auf einem Raum, der in Kanada nur den Bruchteil einer Provinz ausmachte, bewohnten die Menschen schöne alte Städte, hatten Zugang zu drei verschiedenen Meeren und konnten zwischen rauem und heißem Klima wählen. Ich hätte nicht über zwei Tage, sondern über Wochen verfügen mögen, damit ich wenigstens einen Bruchteil dieses Landes entdecken könnte. Das Wichtigste aber war: Die Fahrt lenkte mich von dem Geheimnis ab, um das mein Geist sonst ständig kreiste. Es gab eine Welt, in der der Fall Zuermatt nichts bedeutete, wo das Verschwinden Pascals nicht zählte. Ich hatte mir diese Welt so sehr gewünscht und unvermutet Zugang zu ihr gefunden. Es war nur ein Intermezzo, der Zustand würde nicht von Dauer sein, und doch genoss ich die Erholung unendlich.
Als es dämmerte, befand ich mich in der Gegend zwischen Dijon und Lyon und begann nach einer Unterkunft Ausschau zu halten. Ich verließ die Autobahn und fuhr in die Landschaft hinein. Nun huschten die Ortschaften nicht mehr vorbei, Häuser und Menschen, die in den Gärten die Herbstarbeit erledigten, kamen nahe. Die Straße führte auf schroffe Anhöhen, dann wieder zwischen sanfte Wiesen, die von Bächen durchzogen wurden. In den Dörfern standen Kirchen aus verwittertem Stein, die Kreuze hatten durch Sturm und Regen ihre kantige Form verloren. Ich fuhr durch ein urtümliches Land, das mit der Eleganz von Paris, der Milde der Weingegend nichts zu tun hatte. Die Städtchen wirkten nicht besonders einladend, fast als ob die Menschen froh wären, dass sich der Touristenstrom nur zögernd in ihre Gegend ergoss. Ich las manchen Hinweis auf einen Gîte Rural oder andere Zimmervermietungen, aber es war noch nicht das Richtige. Das Licht schwand, ich fürchtete, dass ich bald das Erstbeste würde nehmen müssen. Mich in der Finsternis über die kurvenreichen Straßen zu bewegen schien wenig ratsam.
Ein Schild wies auf das Schloss bei Ciry le Noble hin, das Zeichen darunter versetzte mich in erwartungsvolle Spannung. Das Piktogramm zeigte ein Bett sowie Messer und Gabel. Ich folgte dem Wegweiser, verlor bald darauf aber die Orientierung und befahl meinem Begleiter, mich nach Ciry le Noble zu bringen. Drehen Sie wenn möglich um , lautete seine schadenfrohe Antwort. Ciry war für mich plötzlich das einzig mögliche Ziel; entweder ich würde in Ciry le Noble übernachten oder gar nicht.
Das Schloss, das auf dem Hügel auftauchte, ließ mein Herz höherschlagen. Wirklich, ein Schloss! Geld sollte heute keine Rolle spielen, ich wollte in diesen Mauern schlafen und hielt vor dem beeindruckenden Gebäude. Es war alles da, um eine kanadische Touristin zu beeindrucken: Zinnen und Türmchen, filigrane Fenster, die bis zum Boden reichten, Balkone, Terrassen. In der Dunkelheit verschwamm ein Park, den ich am nächsten Tag durchstreifen wollte.
Ich war überzeugt gewesen, um diese Jahreszeit problemlos ein Zimmer zu bekommen. Die Luxuskarossen auf dem Parkplatz ließen mich
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