Das Echo der Schuld
Alter …«
Sie hatte keine Lust, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Wahrscheinlich hatte er ebenso einen Schock wie die Frau im Rover. Aber während sie zur völligen Bewegungslosigkeit erstarrt war, schien er nicht aufhören zu können, zu reden.
Sie nahm eine Bewegung im Garten von Tommis Eltern wahr. Tommis Mutter kam auf die Straße gestürzt. Sie schrie irgendetwas, aber Virginia konnte sie nicht verstehen. Michael tauchte soeben wieder neben ihr auf.
»Der Krankenwagen ist gleich da.« Er war so weiß im Gesicht, wie es Virginia noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Er schüttelte immer wieder den Kopf, fassungslos und beinahe ungläubig.
»Gott, großer Gott«, flüsterte er, »ich habe das Auto nicht abgeschlossen! Ich hätte schwören können … aber ich muss es vergessen haben! O Gott, wie konnte mir das passieren?«
Er starrte sie mit einem Ausdruck furchtbarster Verzweiflung in den Augen an.
Sie meinte, in diesem Moment beinahe zusehen zu können, wie etwas in seiner Seele zerbrach.
4
Sie kamen gegen fünf Uhr am Nachmittag in Kyle of Lochalsh an, einem kleinen Dorf, von dessen Hafen aus man früher die Fähre nach Skye genommen hatte. Inzwischen gab es außerdem die Brücke, die sich in eindrucksvollem Bogen über den Loch Alsh hinüber zur Insel spannte. Skye lag zum Greifen nah vor ihnen, ragte aus einem schiefergrauen, stürmisch bewegten Meer empor. Der Gipfel des höchsten Berges verschwand in den schwarzen, dramatisch zusammengeballten Wolken, die der Wind über den Himmel jagte. Gelegentlich riss er Lücken in die wild bewegte Masse, dann blitzte ein Stück leuchtend blauer Himmel auf, und gleißendes Sonnenlicht fiel theatralisch zur Erde hinab, verwandelte die bleierne Farbe des Meeres in glitzerndes Silber und ließ bizarre Schatten über die Landschaft tanzen. Dann schloss sich die Lücke schon wieder, und die Welt lag erneut in Düsternis und Dämmerung.
Sie saßen im Auto auf einem Parkplatz, der zu einem imposanten, schneeweißen Gebäude gehörte, dem Lochalsh Hotel. In einem kleinen Laden im Dorf hatten sie sich Mineralwasser gekauft, hielten jeder eine Flasche auf dem Schoß und tranken immer wieder durstig. Niemand außer ihnen war zu sehen. Der Sommer war vorüber, Reisende zog es nicht mehr so hoch hinauf in den Norden. Kreischende Möwen jagten über die Felsen, die gleich vor dem Hotel ins Wasser abfielen. Sonst war keine lebende Seele weit und breit zu sehen.
Virginia hätte gern Kim noch einmal angerufen, wagte es aber nicht, da sie fürchtete, dass Frederic bei den Walkers Stellung bezogen hatte und sofort ans Telefon gehen würde, wenn es klingelte. Seit ihrem Anruf am Morgen musste er damit rechnen, dass sie sich wieder meldete. Oder war er nach London zurückgekehrt? Es war Freitag, später Nachmittag. In drei Stunden würde die Party beginnen, die so wichtig für ihn war. Vielleicht nahm er daran teil, murmelte irgendetwas von einer plötzlichen Erkrankung seiner Frau und lavierte sich irgendwie durch den Abend. Blass wahrscheinlich, sehr sorgenvoll. Er wusste, dass Virginia am Leben war, hatte aber keine Ahnung, wo sie sich aufhielt und was eigentlich geschehen war. Er zermarterte sich den Kopf und fand keine Antwort. Ob ihm schwante, dass ihre Flucht etwas mit Nathan Moor zu tun hatte? Er musste verzweifelt und ratlos sein. Und vor genau dieser Verzweiflung und Ratlosigkeit fürchtete sie sich. Sollte er die Party abgesagt haben und bei den Walkers am Telefon warten, würde sie sie geballt abbekommen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte.
»Ich hoffe einfach, dass Kim sich keine Sorgen um mich macht«, sagte sie.
Nathan nahm einen tiefen Schluck aus seiner Flasche. » Nach allem, was du mir erzählt hast, wird sie bei den Walkers nach Strich und Faden verwöhnt und genießt ihren Aufenthalt«, meinte er. »Und dass ihrer Mum nichts zugestoßen ist, weiß sie seit deinem Anruf heute früh. Ich vermute, sie ist recht guter Dinge.«
Virginia nickte. »Ich hoffe, du hast Recht.« Sie presste ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe. Wie immer, wenn sie hierherkam, wurde sie von der Schönheit der Landschaft förmlich aufgesogen. Stets hatte sie das Gefühl, mit dem Wasser, dem Himmel, dem Licht verschmelzen zu müssen, weil sie anders nicht genug davon bekommen konnte. Selbst an diesem schon so herbstlich dunkel anmutenden Tag versagte das Land nicht seine Wirkung. Es war ein Nachhausekommen, es war die Rückkehr an einen Ort, von dem sie
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