Das Echo der Schuld
merkte, dass sie zu lächeln begann.
Nathan zog die Augenbrauen hoch. »Was geht in dir vor?«, fragte er. »Du siehst ein bisschen wie eine Katze aus, die schnurrt.«
»Ich sollte mich schämen«, sagte Virginia, »ich habe meinen Mann versetzt, bin einfach weggelaufen, habe ihn in größte Sorgen gestürzt … und fühle mich gut. Ja«, sie hielt einen Moment inne, als lausche sie in sich hinein, »ich fühle mich wirklich gut. Findest du das bedenklich?«
Statt einer Antwort fragte er zurück: »Und was ist dieses gute Gefühl? Wie würdest du es definieren?«
Sie brauchte nicht zu überlegen. »Freiheit. Es ist Freiheit. Sie ist ganz tief in mir, und sie bricht sich ihren Weg nach draußen. Ich weiß, dass ich mich völlig rücksichtslos verhalte, aber ich könnte jetzt nicht umkehren. Um keinen Preis.«
»Dann kehre auch nicht um«, sagte er.
Sie nickte. Sie sah ihn über den Rand ihres Kaffeebechers an. Sie wusste, dass ihre Augen zu glitzern begonnen hatten. Draußen fing es an zu regnen.
»Es ist fast wie …«, begann sie und hielt dann inne.
»Fast wie was?«, fragte Nathan.
Sie stellte den Becher ab, atmete tief. »Fast so, wie es war, bevor Tommi starb«, sagte sie.
3
Michael
Der 25. März des Jahres 1995 war ein besonders warmer, sehr sonniger Frühlingstag. Ein Samstag. In Virginias Garten blühten Krokusse und Osterglocken, und über die Mauer am hinteren Garten schauten dicke, rosafarbene Zweige, die im warmen Wind leise wippten.
Michael war an diesem Morgen ziemlich verkatert, ein Zustand, der bei ihm höchst selten vorkam. Am Vorabend war er in seinem Fitnessstudio in St. Ives gewesen, und einer seiner Freunde dort hatte Geburtstag gehabt und etliche Runden in einer Kneipe ausgegeben. Michael, der mit dem Fahrrad unterwegs gewesen war, sagte, es wundere ihn, dass er überhaupt noch in der Lage gewesen war, die Pedale zu bewegen.
»Ich wollte dich schon anrufen, dass du mich mit dem Auto abholst«, sagte er zu Virginia, »aber dann war mir das doch zu peinlich.«
Sie nickte abwesend. Wie üblich hörte sie ihm nur zerstreut zu. Manchmal stellte er für sie nicht mehr dar als ein beliebiges Hintergrundgeräusch.
»Ich glaube, ich brauche ein Aspirin«, sagte Michael und holte sich ein Glas Wasser und eine Tablette aus der Küche. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, ließ er sich in einen Sessel fallen, sah mit gefurchter Stirn zu, wie sich das Medikament langsam aufzulösen begann, und jammerte über seine Kopfschmerzen. Virginia wusste, dass man sich mit einem handfesten Kater wirklich scheußlich fühlen konnte, dennoch hatte sie nach kürzester Zeit das Gefühl, seinem Lamentieren nicht länger zuhören zu können. Seine ewigen Klagen zerrten an ihren Nerven. Das Wetter, die Arbeit, die Menschen ringsum – Michael fand einfach immer und überall ein Haar in der Suppe. Dann natürlich die Tatsache, dass sich Virginia seinen Heiratsabsichten verschloss und sich weigerte, schwanger zu werden. Wenn ihm gar nichts anderes einfiel, ging er in die Vergangenheit zurück und philosophierte in tragischen Tönen über das unverantwortliche Verhalten seines Vaters, die Scheidung seiner Eltern, die Depressionen und das elende Ende seiner Mutter.
»Ich glaube, du würdest durchdrehen, wenn du plötzlich keinen Grund mehr hättest, unter dem Leben zu leiden«, sagte Virginia manchmal zu ihm, und dann sah er sie verletzt und mit waidwundem Blick an.
Heute jedoch sagte sie nichts. Sie verabschiedete sich möglichst rasch in den Garten und ließ Michael mit seinen Kopfschmerzen allein zurück. Es lag noch genug altes Laub vom Herbst auf dem Rasen, das dringend zusammengerecht werden musste. Virginia war froh, sich beschäftigen zu können.
Später, viel später, als sie und Michael wieder und wieder die Abläufe dieses Vormittags durchgingen und sich fragten, wie das Furchtbare hatte geschehen können, war es für sie vor allem so unerklärlich, wie sie Tommi nicht hatten bemerken können. Normalerweise rief und winkte er, wenn er das Grundstück betrat. Hatte er das diesmal nicht getan? Oder war sie so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht einmal eine Bombe bemerkt hätte, die neben ihr einschlug?
Michael hatte jedenfalls nichts merken können, denn er hatte sich schließlich auf dem Sofa im Wohnzimmer ausgestreckt und vor sich hin gedöst.
Tommi musste gegen elf Uhr gekommen sein. Er hatte seiner Mutter Bescheid gesagt, und da diese wusste, dass er bei den
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