Das Echo der Schuld
Angst und Tränen rätseln, wo Mummie abgeblieben war, schaltete schließlich doch ihr Handy ein. Wie sie erwartet hatte, sprang ihr auf dem Display die Nachricht entgegen, dass sie vierundzwanzig unbeantwortete Anrufe bekommen hatte und ihre Mailbox abfragen sollte. Dies würde sie jedoch auf keinen Fall tun. Sie mochte nicht einmal Frederics Stimme hören.
Stattdessen wählte sie die Nummer der Walkers.
Grace meldete sich beim zweiten Klingeln. »Ja?«
»Grace? Hier ist Virginia Quentin. Ich …«
Sie kam nicht weiter. Grace schnappte hörbar nach Luft und unterbrach sofort: »Mrs. Quentin! Meine Güte! Wir haben uns ja alle solche Sorgen gemacht! Wo sind Sie?«
»Das spielt jetzt keine Rolle. Ich möchte Kim sprechen. Ist sie da ?«
»Ja, aber …«
»Ich möchte sie sprechen. Bitte sofort.«
»Mr. Quentin ist aus London gekommen«, sagte Grace, »er ist drüben im Haupthaus. Es geht ihm richtig schlecht. Er …«
Virginia legte eine Schärfe in ihre Stimme, die sie Grace gegenüber noch nie gezeigt hatte. »Ich möchte jetzt Kim sprechen. Nichts weiter.«
»Wie Sie wollen«, sagte Grace spitz. Gleich darauf erklang Kims Stimme. »Mummie! Wo bist du denn? Daddy ist hier. Er sucht dich.«
»Kim, Kleines, mir geht es gut. Du musst dir keine Sorgen machen, hörst du? Es ist alles in Ordnung. Ich habe nur meine Pläne geändert.«
»Du willst nicht mehr zu Daddy nach London?« »Nein. Es ist … es ist etwas dazwischen gekommen. Ich bin woandershin gereist. Aber ich komme bald wieder zu dir.«
»Wann?« »Bald.«
»Wenn am Montag die Schule anfängt, bist du dann da?« »Ich versuche es, ja?«
»Kann ich so lange bei Grace und Jack bleiben?«
Virginia dankte dem Schicksal dafür, dass Kim die beiden älteren Leute so liebte. Sie hätte sonst sicher sehr viel heftiger und womöglich mit Tränen auf das seltsame Verhalten ihrer Mutter reagiert.
»Natürlich kannst du das. Aber du schaust auch mal nach Daddy, ja? Ich habe gehört, er ist da?«
»Ja. Er war heute ganz früh hier.«
»Okay, Kleines, sei brav und tu alles, was Grace und Jack sagen, ja? Und lauf nicht weit vom Haus weg, hörst du? Auch nicht im Park!«
Kim seufzte. »Das sagt Grace auch dauernd! Ich hab's schon kapiert, Mummie. Ich bin wirklich kein Baby mehr!«
»Ich weiß. Und ich bin sehr stolz auf dich. Ich ruf dich wieder an, ja? Auf Wiedersehen, und ich liebe dich!«
Sie unterbrach die Verbindung sofort, um Grace nicht die Gelegenheit zu geben, sich den Hörer zu schnappen und weiterzulamentieren. Der Höflichkeit halber hätte sie ohnehin noch einmal mit ihr sprechen und sie fragen müssen, ob Kim länger als geplant bleiben durfte, aber sie mochte nicht riskieren, nach ihrem Aufenthaltsort ausgequetscht zu werden. Sollte Jack im Raum gewesen sein, hatte Grace ihn vermutlich ohnehin schon losgejagt, Frederic so rasch wie möglich herüberzuholen, und hätte dann versucht, Virginia auf irgendeine Weise am Apparat zu halten. Dieser Gefahr mochte sie sich nicht aussetzen. Sie wollte auf gar keinen Fall mit Frederic sprechen.
»Fühlst du dich besser?«, fragte Nathan.
Sie nickte. »Ja. Wenigstens nicht mehr ganz so schäbig wie zuvor. Obwohl … Frederic ist nach Hause gekommen. Er muss ziemlich aufgelöst sein.«
»Das war zu erwarten«, sagte Nathan nur. Er wies nach vorn. »Eine Raststätte. Nun bekommst du endlich deinen Kaffee.«
2
Nach zwei Bechern heißen, starken Kaffees und einer großen Portion Rührei mit Toastbrot fühlte sich Virginia um Lichtjahre besser. Die Raststätte war sauber, gepflegt, freundlich und warm. Die Waschräume rochen nach einem starken Desinfektionsmittel und wurden offensichtlich regelmäßig geputzt. Virginia war dort ganz allein, konnte sich Gesicht und Hände waschen, ihre völlig verwirrten Haare bürsten, etwas Lippenstift auftragen. Sie war sofort in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt, als sie zu Nathan in den Gastraum zurückkehrte. Es war nichts los an diesem düsteren Morgen, der eher an einen Novembertag erinnerte als an den ersten September. Außer ihnen saß nur noch ein einziger Mann an einem der Tische und las Zeitung. Leise Musik dudelte im Hintergrund. Es war angenehm, in den bequemen Stühlen zu sitzen, die Beine weit auszustrecken, den heißen Keramikbecher zwischen den kalten Fingern zu spüren. Virginias Lebensgeister regten sich wieder, und langsam kehrte das Gefühl vom vergangenen Abend zurück: ein Gefühl von Freiheit, von Abenteuer, von Leichtigkeit.
Sie
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