Das Echo der Schuld
Erschöpfung und Leere in den Augen.
»Michael versuchte, irgendwie sein normales Leben weiterzuführen, aber das gelang ihm von Tag zu Tag schlechter. Zuerst dachte ich, nach einer gewissen Zeit würde er in den Alltag zurückfinden, aber schließlich gewann ich den Eindruck, dass ihn seine Kräfte und auch der Wille, das Geschehene hinter sich zu lassen, immer mehr verließen. An manchen Tagen ging er gar nicht mehr zur Arbeit, saß daheim im Wohnzimmer und starrte die Wände an. Er ließ sich nicht mehr im Fitnessstudio blicken, wohin er früher so gern gegangen war, er traf sich nicht mehr mit seinen Freunden. Sein Schuldgefühl erdrückte ihn ganz und gar. Es war, als … ja, als wolle er auch nicht mehr leben, weil Tommi hatte sterben müssen. Ich weiß, dass er auch über Selbstmord nachdachte. Aber Michael ist nicht der Typ, der sich umbringt. Da fehlte es ihm an Entschlusskraft.«
»Vielleicht hättest du ihn auffangen können«, meinte Nathan, »wenn du ihn endlich geheiratet hättest. Es hätte ihn sicherlich stabilisiert.«
Sie nickte. »Vermutlich. Aber es ging einfach nicht. Ich war ja vorher schon so weit von ihm entfernt gewesen. Seine depressive Art, sein ewiges Lamentieren – all das ertrug ich im Grunde ja schon lange nicht mehr. Und nun war das alles noch schlimmer geworden. Wie sollte ich plötzlich damit zurechtkommen?« Sie strich sich die Haare zurück. Ihr Blick heftete sich noch immer auf die Insel unter den jagenden Wolken. »Ich wusste doch genau, wie unser Leben von da an ausgesehen hätte. Tag um Tag, Stunde um Stunde wären wir um das Thema Schuld gekreist. Michael hätte niemals damit aufgehört. Denn dazu hätte er anfangen müssen, sich selbst zu verzeihen, und das wäre ihm wie ein Verrat an Tommi und dessen Schicksal vorgekommen.«
»Hast du überlegt, ihn zu verlassen?«
»Ständig. Jeden Tag. Aber mir war klar, dass er dann untergehen würde. Ich fing langsam an, selbst durchzudrehen. Ich fühlte mich plötzlich an Michael gefesselt, obwohl ich ja, bevor der Unfall geschah, in Gedanken schon ständig unsere Trennung durchgespielt hatte. Es war eine Zeit, die ich … die ich nie wieder erleben möchte.«
Sie sah Nathan endlich an. »Und dann beendete er selbst die Qual unseres Zusammenseins. Als ich von einem Wochenende zurückkehrte, das ich bei einer Freundin in London verbracht hatte, war er weg. Mit ihm zwei Koffer und die meisten seiner Klamotten. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein Abschiedsbrief an mich. Er schilderte darin die Verzweiflung, in der er seit Tommis Tod lebte, er rollte noch einmal das ganze Ausmaß seiner Schuld auf. Er warf sich ja nicht nur vor, das Auto nicht abgeschlossen zu haben, er klagte sich auch für seine Zuneigung zu Tommi an. Damit erst habe er ihn an sich gebunden, ihn zu einem Dauergast bei uns gemacht. Nur so habe das alles passieren können … Ach, er schrieb in dem Brief all das, was er auch sonst stets erzählt hatte. Und dann, zum Schluss, gab er mich gewissermaßen frei.« »Wohin ging er?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das wusste er wohl selbst noch nicht. Ich denke, ihm schwebte eine Art Nomadendasein vor. Er hoffte, zumindest ein gelegentliches Vergessen zu finden, wenn er nur ständig in Bewegung bliebe. Heute hier, morgen da. Ich solle ihn nicht suchen, schrieb er. Ich solle mein eigenes Leben führen, frei von ihm.«
»Hast du ihn denn je gesucht?«, fragte Nathan.
»Nein.«
»Dann hast du keine Ahnung, was aus ihm geworden ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nie wieder von ihm gehört. Er war fort, so als habe es ihn nie gegeben.«
»Welch ein Absturz«, meinte Nathan nachdenklich. »Ein intelligenter junger Mann, der offenbar eine Karriere an der Universität vor sich hatte, der womöglich einmal Professor in Cambridge geworden wäre … und dann passiert eine solche Geschichte. Wo ist er heute? Lebt er auf der Straße? Als Landstreicher? Hängt er am Alkohol? Oder ist es ihm gelungen, noch einmal so etwas wie eine bürgerliche Existenz aufzubauen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Virginia.
»Würdest du es gern wissen?« »Ich glaube nicht.«
Ersah sie an. »Was ich nicht verstehe, ist … weshalb hat dich das alles so traurig gemacht? Ich meine, sicher ist dir der Tod des kleinen Jungen nahe gegangen, bei wem wäre das nicht so? Auch Michaels Schicksal läßt dich natürlich nicht ungerührt. Vielleicht plagen dich auch dann und wann Schuldgefühle, weil du nicht nach ihm gesucht, weil du ihn letztlich
Weitere Kostenlose Bücher