Das Echo der Schuld
Nachbarn ein gern gesehener Gast war, hatte sie ohne Bedenken zugestimmt. Ohne dass Michael und Virginia ihn wahrnahmen, musste er dann sofort versucht haben, in das am Steilhang geparkte Auto zu steigen, und es tatsächlich unverschlossen vorgefunden haben. Er hatte sich hinter das Steuer gesetzt und die Handbremse gelöst. Der Wagen war vermutlich sofort ins Rollen geraten.
Virginia, die ganz hinten im Garten gerade damit begonnen hatte, das zusammengerechte Laub in Plastiksäcke zu füllen, hörte die Geräusche von der Straße alle auf einmal, und es war wie eine unerwartete Detonation, die den Frieden des Morgens urplötzlich durchschnitt: quietschende Bremsen, schrilles Hupen, das heftige Krachen von Metall.
Sie richtete sich auf und dachte: Ein Unfall. Direkt vor unserem Haus!
Sie lief um das Haus herum und schaute den Abhang hinunter auf die Straße.
Es war einer jener Momente, in denen sich das Gehirn nicht bereit zeigt, sofort alle Zusammenhänge zu begreifen, obwohl sie offensichtlich sind und nicht auf verschiedene Art interpretiert werden können. Virginia sah, dass ihr Auto nicht mehr in der Auffahrt parkte. Es war verschwunden. Völlig verloren lag die Fahrertür unten am Fuß des Steilhangs, direkt an dem dicken braunen Pfosten, der das Grundstück begrenzte und an dem sie offenbar hängen geblieben und abgerissen war. Auf der Straße standen kreuz und quer drei Autos, von denen nicht sofort klar war, inwieweit sie zusammengestoßen oder durch waghalsige Bremsmanöver in die bizarren Positionen geschlittert waren, in denen sie sich nun befanden.
Eines der Autos – diese Erkenntnis grub sich ganz langsam ihren Weg in Virginias betäubtes Gehirn – war ihres.
»Was ist passiert?« Michael tauchte neben ihr auf, mit wirren Haaren, weil er auf dem Sofa gelegen hatte, und mit bleichem Gesicht, weil ihn noch immer die Übelkeit quälte.
Er starrte auf die Straße. »Da ist unser Auto!« Er schaute zur Seite, dorthin, wo der Wagen eigentlich hätte stehen müssen. »Was … wie kommt unser Auto …?« Er sah Virginia an, und gleichzeitig riefen beide: »Tommi!«
Nebeneinander rannten sie die Auffahrt hinunter. Virginia atmete vor Angst so verkrampft, dass sie, unten angekommen, keuchte und heftiges Seitenstechen spürte. Michael sah aus, als müsse er sich jeden Moment übergeben.
Sie sahen Tommi, der regungslos auf der Straße lag. Ein Mann, der aus einer Wunde am Kopf blutete, beugte sich über ihn und versuchte hektisch und ungeschickt, den Puls des Kindes zu ertasten. In einem schwarzen Rover, der mit der Nase zu Tommis Elternhaus gedreht stand, saß eine blonde Frau am Steuer und starrte aus weit aufgerissenen Augen auf ihr Armaturenbrett, als gebe es dort etwas Faszinierendes zu sehen. Sie schien sich in einem Schockzustand zu befinden und sich nicht bewegen zu können.
Der Mann mit der Kopfwunde blickte auf. »Da ist noch ein Puls. Ich kann ihn spüren!«
Virginia sank neben Tommi auf die Knie. Der Junge lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt, aber sie wagte nicht, ihn herumzudrehen, aus Angst, er könnte innere Verletzungen erlitten haben, die sie verschlimmerte, indem sie ihn bewegte.
»Tommi«, flüsterte sie, »Tommi!«
»Er schoss rückwärts aus der Einfahrt«, sagte der Mann, »ich … ich bremste wie verrückt, aber … es ging alles so schnell …«
Virginia fuhr Michael an: »Los, beeil dich! Ruf einen Krankenwagen! Ganz schnell!«
Der totenbleiche Michael setzte sich in Bewegung.
»Ich … bin voll mit dem Wagen zusammengestoßen, und er ist rausgeschleudert worden«, sagte der Mann. Es schien ihm wichtig zu reden, obwohl Virginia dies alles im Moment nicht hören wollte. Sie wollte nur, dass Tommi sich umdrehte, sie wollte sein sommersprossiges Gesicht sehen, er sollte grinsen und alle seine Zahnlücken blecken und sagen: »Schöner Mist! Tut mir echt leid!«
Aber er rührte sich nicht.
Der Mann redete noch immer.
»… und dann kam die Frau da in dem Rover. Die fuhr viel zu schnell. Das ist doch ein Wohngebiet hier. Die hatte vielleicht ein Tempo drauf! Und die hat ihn erfasst. Die hatte überhaupt keine Chance mehr zu bremsen, so wie die gerast ist …«
»Tommi«, flüsterte Virginia, »Tommi, sag doch etwas!«
»Da liegt ja auch die Tür von dem Auto!«, sagte der Mann. »Der Junge hat die nicht richtig zugemacht. Deshalb ist er rausgeflogen! Sagen Sie, wie können Sie denn Ihrem Sohn erlauben, einfach so in Ihr Auto zu steigen … ich meine, in seinem
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