Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
Menschen so leben konnten. Er hatte sich viele Notizen dazu gemacht, Gedankenfragmente und angerissene Überlegungen niedergeschrieben. Es gab interessante Betrachtungen, die man dazu anstellen konnte. Es war faszinierend, fand er, in das Leben anderer Menschen hineinzublicken.
    Gegen fünf Uhr am Nachmittag waren sie endlich aufgebrochen.
    Seit dem Vortag meldeten die BBC im Radio und der Luftdruck auf dem Schiffsbarometer endlich eine stabile Hochdrucklage. Die große Genua hatte er aus dem Segelsack geholt und angeschlagen, um wenigstens zwei Knoten im Schiff zu haben, während er den Kurs querab vom Leuchtfeuer von Rodel auf der Karte absteckte. Vielleicht schafften sie es noch, mit ein wenig Tageslicht die Meerenge zu passieren. Kurz überlegte er, ob Livia die Abreise verzögert hatte, um ihn zu zwingen, zwischen den Inseln Uist und Skye hindurch den direkten Weg nach Süden zu nehmen, anstatt hinaus auf den Atlantik zu segeln. Sie hatten auch zu dieser Frage Diskussionen geführt. Das Schlimme war, dass Livia solche Angst vor dem Wasser hatte.
    Er war dennoch entschlossen, den Kurs außerhalb der Hebriden zu nehmen.
    Kurz vor neun Uhr hatte die kritischste Passage hinter ihnen gelegen. Livia war längst nach unten in die Kajüte verschwunden. Sie hatte behauptet, müde zu sein und Kopfschmerzen zu haben. Er war nicht traurig gewesen. Ihr ewig waidwunder Blick ging ihm entsetzlich auf die Nerven.
    Vom Atlantik her stand eine alte Dünung aus Westen, sie befanden sich jetzt bereits im Gezeitenstrom, der gegen ihren Kurs stand. Egal, dachte er, ein Knoten Strömung gegen mich, zwei Knoten Fahrt macht das Schiff, bleibt noch ein Knoten übrig, der uns nach Südwesten trägt.
    Vielleicht würde er gar nicht mehr wie geplant den Hafen von Youghal in Südirland ansteuern, sondern gleich durchsegeln bis zunächst hinunter nach La Coruña. Er hatte keine Lust mehr auf Verzögerungen. Weg von Europa. Endlich freie Fahrt über den Atlantik. Die Karibik. Weiße Strände, Sonnen, Palmen. Ihn hatte die fast mystische Stimmung auf Skye in Regen und Nebel zutiefst fasziniert, aber für den Winter konnte er sich ein Leben in der Wärme auch gut vorstellen. Sehr gut sogar.
    Er saß im Cockpit, genoß den Frieden und die Klarheit der Nacht und hing seinen Gedanken nach.
     
    Er sah die Lichter ganz deutlich. Sie näherten sich von achtern, zwei grüne Lichter, ein rotes und ein weißes darüber. Offensichtlich zwei Frachter, die denselben Kurs fuhren wie er selbst. Er war überzeugt, dass man ihn sehen konnte; er hatte seine Navigationsleuchten eingeschaltet, und der Radarreflektor oben am Mast würde ein deutliches Echo geben. Er musste sich um nichts kümmern. Nachdem er den Sound of Harris verlassen hatte, hatte er den Autopiloten aktiviert, der nun leise schnurrend seinen Dienst tat.
    Er fühlte, wie seine Glieder immer schwerer wurden. Einmal sackte sein Kopf nach vorn, ruckartig wachte er auf, gähnte. Was, zum Teufel, machte ihn so schläfrig? Er war ein Nachtmensch, kam abends, nachts eigentlich erst richtig in Gang. Aber die hohe Luftfeuchtigkeit der letzten Tage, das lange, zornige Warten heute auf den Aufbruch, die schwierige Passage bei verdämmerndem Licht – das alles hatte ihn Kraft gekostet. Sein Kopf sank auf die Brust. Die Müdigkeit war so schwer, so elementar, dass es kaum noch Sinn zu machen schien, sich dagegen wehren zu wollen. Von einem Moment zum anderen fiel er in einen kurzen Schlaf, der, wie er später rekonstruierte, wohl nur wenige Minuten gedauert hatte. Dennoch entscheidende Minuten.
    Er wachte so plötzlich auf, wie er eingeschlafen war.
    Er wusste nicht, ob es das Geräusch der leise schlagenden Segel gewesen war, das ihn geweckt hatte, oder das Schlagen der Großschot – wahrscheinlich keines von beiden, sondern ein eigentümliches, lautes Geräusch, das an einen riesigen Hammer erinnerte, der krachend auf eine Stahlplatte schlug.
    Er blickte auf, sah, dass die Genua nur noch von der Dünung des Atlantiks bewegt wurde. Der Wind war völlig abgeflaut.
    Dieses Geräusch … der Hammer, der auf Stahl schlug …
    Die Lichter, dachte er.
    Im selben Moment sah er sie wieder, es waren nur noch drei Lichter, ein rotes, ein grünes und darüber ein weißes, und sie waren höchstens noch eine halbe Seemeile von der Dandelion entfernt. Sie bewegten sich direkt auf sie zu.
    Er sprang auf, und es schoss ihm durch den Kopf: Verdammt noch mal, sehen die uns denn nicht?
    Er hastete zum Steuerrad, schaltete

Weitere Kostenlose Bücher