Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
sie überlebt, dabei war ihr Leben praktisch keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Sie besaßen nichts mehr als das, was sie auf dem Leib trugen: sie einen hellblauen Schlafanzug, der aus kurzen Hosen und einem ausgeleierten Oberteil bestand, er zumindest noch seine Jeans, Unterwäsche, einen Wollpullover und ein Paar Socken. Seine Schuhe hatte er verloren, als er über Bord gehechtet war.
    Und eine Rettungsinsel, dachte er mit einem Anflug von Sarkasmus, eine Rettungsinsel besitzen wir auch noch. Kann man ja auch immer mal brauchen.
    Noch immer war die Nacht klar, blitzten hier und da die Sterne am Himmel. Teilnahmslos starrte er über das dunkle Wasser. Für den Moment weigerte sich sein Verstand, weiterzudenken. Weder was die Vergangenheit noch was die Zukunft betraf. Selbst die Verzweiflung, die ihm wenige Minuten zuvor noch die Tränen in die Augen getrieben hatte, konnte er nicht mehr spüren. In ihm war nur Leere, eine tief erschöpfte, fast barmherzige Leere.
     

Samstag, 19. August
     
    1
     
    Virginia Quentin hörte in den frühen Morgenstunden des neunzehnten August von dem Schiffsunglück, das sich nicht weit vor den äußeren Hebriden in der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag ereignet hatte. Es gab einen kleinen Radiosender auf den Inseln, der Meldungen verbreitete, die hauptsächlich für die Inselbewohner interessant waren. Dabei ging es in erster Linie um das Wetter, dem hier oben, wo viele Menschen vom Fischfang lebten, eine entscheidende Bedeutung zukam. Natürlich wurden auch manchmal Katastrophen gemeldet; es hatte Fischer gegeben, die nicht zurückgekehrt waren, und schon manches Mal hatten die wilden, kalten Winterstürme, die über das Nordmeer herangebraust kamen, Dächer abgedeckt und einmal sogar eine Frau über die Klippen geweht. Was es noch nicht gegeben hatte, zumindest soweit Virginia wusste, war eine derartige Tragödie, die Ausländern zustieß.
    Sie war in aller Frühe aufgestanden und zu ihrem Lauf über die Hochebene am Meer aufgebrochen. Sie liebte die Stille und Klarheit der ersten Morgenstunden; es bereitete ihr keine Probleme, ihr Bett noch vor sechs Uhr zu verlassen und sich an der Frische und Unberührtheit des beginnenden Tages zu berauschen. Auch daheim in Norfolk joggte sie frühmorgens, aber hier oben auf Skye war es ein ganz besonderes Erlebnis. Ein Glas mit eiskaltem Champagner konnte ihrer Ansicht nach nicht so belebend, so prickelnd, so besonders sein wie das Atmen des Windes, der über das Meer gestrichen kam.
     
    Sie fand auch, dass sie hier oben mehr Ausdauer hatte als daheim, was sicherlich am Sauerstoffgehalt der sie umgebenden Luft lag. So oder so aber war sie gut in Form. Sie lief in langen, federnden Schritten, wiegte sich in ihren eigenen Rhythmus hinein, brachte ihren Körper und ihr Atmen in einen vollkommenen Gleichklang. Das Laufen am Morgen gehörte ihr ganz allein und war ihre Kraftquelle für den folgenden Tag. Sie hätte niemals einen anderen Menschen dabeihaben wollen. Sie genoss das Alleinsein, und sie genoss es in der wunderbaren Einsamkeit der Isle of Skye auf eine besondere Weise.
    Daheim duschte sie und setzte sich dann, mit einem Handtuch um den Kopf, an den Tisch im Wohnzimmer und trank ihren Kaffee mit viel heißer Milch, hörte Radio dabei, fühlte Kraft und Ruhe in ihrem Körper und sagte sich, dass ihre Ehe mit Frederic zwar in mancher Hinsicht langweilig sein mochte, ihr aber zwei wundervolle Geschenke eingebracht hatte: ihre siebenjährige Tochter Kim und dieses Häuschen in Dunvegan.
    Sie hatte sich ihren Gedanken hingegeben und das Radio nur als Hintergrundgeräusch wahrgenommen, aber sie horchte auf, als der Sprecher von dem Unglück berichtete, das einem deutschen Ehepaar zugestoßen war. Mitten in der Nacht waren sie von einem Frachter, in dessen Fahrrinne sie sich befunden hatten, buchstäblich überrollt worden, nachdem offensichtlich eine Verkettung unglücklicher Geschehnisse ein Ausweichmanöver verhindert hatte. Von dem kleinen Segelschiff gab es keine Spur mehr, seine Einzelteile ruhten auf dem Grund des hier überall sehr tiefen Meeres. Den Namen des Frachters, der das Unglück verursacht hatte, oder auch nur seine Nationalität kannte niemand. Der Skipper des Segelschiffs konnte keine Angaben zu seiner Position zum Zeitpunkt des Unglücks geben. Fischer hatten die im Wasser treibende Rettungsinsel gesichtet und das Ehepaar aufgenommen. Die junge Frau, so wurde berichtet, stehe unter Schock. Beide seien unterkühlt,

Weitere Kostenlose Bücher