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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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den Autopiloten aus. Er musste sofort den Motor starten und die Dandelion, so rasch er konnte, wenigstens hundert Meter weiter nach Backbord steuern, andernfalls würde es zur Kollision kommen. Verflucht, er hätte nicht einschlafen dürfen. Die See war in dieser Gegend viel zu dicht befahren, um sich mitten in der Nacht auf Wache ein kurzes Nickerchen leisten zu können.
    Warum sprang der Motor nicht an? Nicht einmal der Anlasser drehte sich. Er versuchte es noch einmal … und noch einmal … Nichts geschah.
    Wie die Front eines Hochhauses baute sich der Bug eines großen Schiffes vor ihm auf, um ein Vielfaches größer als die Dandelion, und er näherte sich in erschreckend schneller Fahrt. Das Schiff hielt direkt auf das Segelboot zu, das plötzlich zur Nussschale schrumpfte, und es war klar, dass ein Zusammenstoß nicht zu überstehen war, dass von der Dandelion in zwei oder drei Minuten nur noch ein Haufen Schrott übrig sein würde.
    Im Niedergang tauchte Livias Kopf auf. Er sah wirre Haare, angstvoll weit aufgerissene Augen. Die Motorengeräusche des riesigen Frachters veranstalteten inzwischen einen höllischen Lärm.
    »Nathan!«, schrie sie, blieb aber bewegungslos stehen und starrte auf das immer näher kommende Unheil. Mit einer einzigen Bewegung riss er die Rettungsinsel unter dem Steuersitz hervor.
    »Runter vom Schiff!«, brüllte er. »Hörst du nicht, sofort runter vom Schiff!« Livia rührte sich nicht.
    »Spring!«, schrie er, und als sie zögerte, packte er sie an den Armen, zerrte sie die Stufen hinauf und stieß sie mit aller Kraft über Bord. Schleuderte die Rettungsinsel hinterher und sprang dann, in der letzten Sekunde, selbst.
    Das Wasser war eiskalt, empfing ihn mit grausam schmerzenden Nadelstichen. Ganz kurz dachte er, sein Herz werde aussetzen vor Kälte, aber dann merkte er, dass er lebte, dass sein Herz also offensichtlich schlug. Prustend und keuchend tauchte er wieder aus den Wellen auf. Zum Glück trug er, wie stets an Bord, seine Schwimmweste.
    Das Geräusch des auf Stahl schlagenden Hammers war nun genau über ihm. Eine riesige Welle erfasste ihn, schleuderte ihn mehrere Meter weit zur Seite. Die stählerne Wand des Schiffes, fast zum Greifen nah, zog wie in Zeitlupe an ihm vorbei.
    Die Dandelion wurde vom Bug des Frachters frontal getroffen und sofort unter Wasser gedrückt.
    Ihm kamen die Tränen – ihm! Er weinte nie. Er hätte nicht gedacht, dass er noch einmal weinen würde. Zuletzt war es ihm als kleinem Jungen passiert, als sie den Sarg mit seiner Mutter darin an ihm vorbeitrugen. Seitdem nicht ein einziges Mal. Aber diese Hinrichtung zu erleben war zu schlimm, vielleicht war es auch zu schnell gegangen, eben hatte er noch in der Steuerkajüte gesessen und geträumt und ein paar unverzeihliche Minuten lang geschlafen, und jetzt trieb er im kalten Wasser des Nordmeers, und vor seinen Augen wurde vernichtet, woran sein Herz hing. Und was seine Existenz war.
    Die Rettungsinsel, die sich im Wasser entfaltet hatte, musste ebenfalls von der Bugwelle des Frachters erwischt worden sein. Im Schraubenwasser des Schiffs drehte sie sich mit aufgerissener Plane einige Meter von ihm entfernt. Daneben konnte er Livia erkennen. Sie war direkt aus ihrem Bett gekommen, trug daher keine Schwimmweste. Er rief nach ihr, aber sie reagierte nicht. Mit ein paar kräftigen Schwimmstößen war er neben ihr.
    »Schwimm, Livia«, drängte er, »los, schwimm endlich! Wir müssen in die Rettungsinsel!«
    Sie machte keinerlei Anstalten, sich in Richtung Insel zu bewegen. Zwar hielt sie sich mit matten, mechanischen Bewegungen über Wasser, aber ihre Augen waren weit aufgerissen und starr, und sie schien in diesem Moment nicht ansprechbar zu sein. Nathan drehte sich auf den Rücken, packte Livia unter beiden Armen und zog sie mit sich zur Insel. Er keuchte, schluckte immer wieder Wasser. Wenigstens leistete Livia keinerlei Widerstand. Er ließ sie für einen Moment los, zog sich langsam und mühevoll auf die Insel hinauf, wandte sich dann um, zerrte Livia ebenfalls hinauf. Er gab nicht auf, obwohl er zwischendurch meinte, keine Sekunde weitermachen zu können. Als er auch Livia in Sicherheit gehievt hatte, brach er völlig erschöpft zusammen.
    Erst nach einer ganzen Weile konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen.
    Sie hatten es geschafft. Sie waren nicht untergegangen, waren nicht in die Tiefe gerissen worden. Trotz allem gelang es ihm, für ein paar Sekunden Dankbarkeit zu empfinden. Beide hatten

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