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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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ehrlich war, dann wusste er, dass er, was Virginia betraf, durchaus jene Verzauberung gespürt hatte, die er nun auf den Gesichtern der jungen Menschen ringsum wahrnahm. Aber er war allein gewesen damit. Er hatte sie geliebt, begehrt, bewundert. Er hatte sie angebetet. Er war verrückt nach ihr gewesen. Und in diesem Strudel starker, ihn mitreißender Gefühle hatte er überhaupt nicht bemerkt, wie schwach die Resonanz auf der anderen Seite ausfiel. Es kamen Lippenbekenntnisse zurück – obwohl sie keineswegs allzu häufig ein Ich liebe dich hervorgebracht hatte –, und sie hatte ziemlich rasch eingewilligt, seine Frau zu werden. Aber während er geglaubt hatte, sterben zu müssen, wenn sie ihn nicht heiratete, war sie gleichmütig gewesen, am Tag der Trauung so in sich gekehrt wie sonst auch.
    Er starrte ein junges blondes Mädchen an, das an den Lippen eines langhaarigen Mannes hing und fasziniert den Worten zu lauschen schien, die er sprach. Natürlich stimmte es nicht, wenn er es sich richtig überlegte, dass er nichts bemerkt hatte. Ja, genau genommen war er sogar manchmal unglücklich gewesen über die Kühle, die von ihr ausging. Aber er hatte ihre Art verantwortlich gemacht, ihre Neigung zur Schwermut, die Melancholie, die tief in ihr wurzelte. Keine Sekunde lang hatte er in Erwägung gezogen, es könnte ein Mangel an Gefühlen für ihn sein, was diese Distanz erzeugte. Wahrscheinlich hatte er es auch nicht in Erwägung ziehen wollen. Dafür war seine Liebe zu groß gewesen, hatte ihn zu sehr mitgerissen. Er, der er sich immer als einen sachlichen Vernunftmenschen beschrieben hätte, war so gefesselt gewesen von einer Frau, dass er sich die Wahrheit verschönte und zurechtrückte, bis sie genau passte, und er hatte von diesem Vorgang in sich nicht einmal etwas bemerkt. Er war das Paradebeispiel für perfekte Verdrängung. Und das Ende vom Lied war, dass er an einem regnerischen Septembertag im Hyde Park stand, frustriert und müde den Liebespaaren zusah und dabei wusste, dass sich seine Frau, die Frau, die er mehr liebte als alles andere auf der Welt, in seinem Ferienhaus auf den Hebriden von einem hergelaufenen, zwielichtigen Typen beglücken ließ und womöglich gar nicht zu ihm zurückkehren würde. Denn wieso sollte er annehmen, dass sie das tat? Die ganzen Stunden über hatte er sich ausgemalt, wie sie reuevoll vor ihm stehen würde, nachdem Moor sie wie eine heiße Kartoffel hatte fallen lassen, wie sie reden und diskutieren würden, wie er Erklärungen fordern und sie auch bekommen würde - und wie sie sich am Ende wiederfinden würden. Und wenn sie nicht kam?
    Und wenn ich sie nicht zurücknehmen kann?, fragte er sich.
    Er tat ein paar Schritte zu einer Bank, die nass glänzte im Regen, ließ sich schwerfällig darauf fallen. Er sehnte sich eine Flasche Wodka herbei. Schöner, hochprozentiger Alkohol. Er wollte wie ein Penner auf einer Bank sitzen und das scharfe Zeug seine Kehle hinunterrinnen lassen. Um nicht darüber nachdenken zu müssen, dass er Virginia vielleicht für immer verloren hatte.
    Oder dass seine eigenen Gefühle die ihnen aufgebürdete Last nicht würden tragen können.
    Das konnte ebenfalls passieren, und es war vielleicht die schlimmste aller vorstellbaren Möglichkeiten.
     
    4
     
    Es war fünf Uhr am Nachmittag, als Ken Jordan an der Haustür der Familie Lewis klingelte. Er kannte Margaret und Steve Lewis, Julias Eltern, recht gut; sie waren aktive Mitglieder der Gemeinde und verzichteten kaum einen Sonntag auf den Kirchenbesuch. Er wusste, dass Julia eng mit Rachel Cunningham befreundet gewesen war. So verwunderte es ihn nicht, dass Margaret Lewis verweinte Augen hatte, als sie ihm öffnete. Sie hatte schon am Vormittag während seiner Predigt, in der er ausführlich über Rachel und ihr schreckliches Schicksal gesprochen hatte, immer wieder leise vor sich hin geschluchzt.
    »Ich hoffe, ich komme nicht völlig ungelegen«, sagte Ken, »aber es ist sehr wichtig.«
    Sie ließ ihn eintreten. »Nein, im Gegenteil, ich bin froh, Sie zu sehen, Herr Pfarrer. Ich muss heute den ganzen Tag weinen. Vielleicht, weil es genau vor einer Woche war, als …« Sie biss sich auf die Lippen. Ihre Stimme versagte.
    »Wir alle können es nicht fassen«, sagte Ken.
    »Wer tut so etwas? Wer tut etwas so Furchtbares?«
    »Derjenige muss krank sein«, sagte Ken. »Ein schwer kranker Mensch.«
    Er folgte ihr ins Wohnzimmer. An dem kleinen, runden Tisch im Erker saß Steve Lewis vor einer Tasse Tee.

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