Das Echo der Schuld
antwortete Livia leise. Im Krankenhaus hatte sie nichts vom Tagesgeschehen um sie herum mitbekommen, aber Frederic hatte ihr von den beiden Verbrechen erzählt.
»Wenn ich wenigstens einen Hund hätte«, fuhr sie fort, »dann würde ich …«
»Wir haben jetzt aber keinen Hund«, erwiderte Grace gereizt. Sie begriff, dass Livia zu den Menschen gehörte, die ewig lamentieren, aber nicht handeln, und dass von ihr im Grunde keine Hilfe zu erwarten war. Sie riss nur die Augen auf und machte einen spitzen Mund und hatte keine Ahnung, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Fast fühlte Grace Verständnis für Livias Ehemann, der vor ihr geflüchtet war und sich einer anderen Frau zugewandt hatte. Aber nur fast. Dass es ihm möglicherweise gelang oder schon gelungen war, die Ehe von Frederic und Virginia Quentin zu zerstören, würde Grace ihm niemals verzeihen.
»Ich rufe jetzt die Polizei an«, sagte sie entschlossen. »Wir können nicht hier sitzen und die Zeit verstreichen lassen. Die müssen uns Leute schicken, die den Park durchsuchen.«
Sie ging ins Wohnzimmer hinüber. Gerade als sie den Hörer abheben wollte, rief Livia, die in der Küche geblieben war: »Da kommt jemand!«
»Kim!«, krächzte Grace und lief in die Küche zurück.
Aber es war nicht das sehnlichst erwartete Kind. Es waren Virginia und Nathan.
Sie hatten anhalten und das Tor öffnen müssen, und Livia hatte das Scheinwerferlicht des Autos gesehen.
Grace riss die Haustür auf und stolperte in Bademantel und Pantoffeln hinaus auf die Auffahrt, um den Wagen zu stoppen. Nathan, der am Steuer saß, bremste scharf. Virginia sprang sofort hinaus, als sie die völlig aufgelöste Frau im Lichtkegel erblickte.
»Grace! Was ist passiert? Ist etwas mit Kim?«
Grace, die während der letzten Minuten ihre Fassung mühsam wiedergefunden hatte, brach nun erneut in Tränen aus. »Sie ist verschwunden«, schluchzte sie.
»Was heißt das?«, fragte Virginia schrill. »Was heißt verschwunden?«
Inzwischen stieg auch Nathan aus. »Beruhigen Sie sich«, sagte er zu Grace. »Kim ist verschwunden? Seit wann?«
Grace berichtete vom Ablauf des Nachmittags. »Ich konnte mich einfach nicht länger auf den Beinen halten«, weinte sie, »deshalb wollte ich mich kurz hinlegen. Ich wollte nicht einschlafen. Ich verstehe nicht, wie …«
»Niemand macht Ihnen einen Vorwurf«, sagte Nathan. »Sie sind krank, und Sie waren überfordert.«
Virginia biss sich auf die Lippen. »Wo ist denn Jack?«
»Der hat einen Transport nach Plymouth. Er konnte nicht absagen.«
»Wir müssen sofort die Polizei anrufen«, sagte Virginia voller Panik.
»Vielleicht hält sie sich irgendwo im Park verborgen«, sagte Grace, »sie baut sich doch andauernd Höhlen und Geheimgänge und solche Verstecke.«
»Aber weshalb sollte sie sich verstecken?«, fragte Virginia.
»Sie war sehr traurig und bedrückt heute«, sagte Grace. Sie wich Virginias Blick aus. »Es war doch der erste Schultag, und sie konnte nicht verstehen, weshalb … Nun, weshalb ihre Mutter nicht hier war. Und ich konnte mich auch nicht richtig um sie kümmern. Vielleicht wollte sie einfach …« Sie hob die Schultern. »Vielleicht wollte sie einfach weg!«
»O Gott«, flüsterte Virginia.
»Wir brauchen Taschenlampen«, sagte Nathan. »Was Grace sagt, klingt plausibel. Vielleicht hat sie sich wirklich versteckt und hat Angst vor dem Rückweg in der Dunkelheit. Wir sollten sofort das ganze Gelände durchstreifen.«
»Wir sollten sofort die Polizei benachrichtigen«, sagte Virginia. Ihre Stimme klang schrill.
Verdammt, nicht Kim! Nicht Kim!
Nathan legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich vermute, die würden jetzt noch gar nichts unternehmen«, sagte er. »Kim ist noch nicht sehr lange fort, und sie ist auch nicht auf dem Schulweg, dem Spielplatz oder von sonst einem öffentlichen Ort verschwunden. Sie war hier im Haus. Niemand ist gekommen und hat sie von hier weggeholt, das halte ich zumindest für sehr unwahrscheinlich.«
»Aber sie …«
Der Druck seiner Hand auf ihrem Arm verstärkte sich. Selbstsicher und beruhigend. »Es gibt keine Übereinstimmung mit den Geschichten der beiden anderen kleinen Mädchen. Keinerlei Parallelen. Ich denke, wir finden sie.«
Sie atmete tief durch. »Okay. Okay, wir suchen sie. Aber wenn wir sie innerhalb der nächsten Stunde nicht finden, rufe ich die Polizei an.«
»In Ordnung«, stimmte Nathan zu.
»Wir haben Taschenlampen«, sagte Grace.
Sie hustete und weinte, während
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