Das Echo der Schuld
Pause fügte er mit behutsamer Stimme hinzu: »Hast du mal überlegt, dass … Frederic etwas damit zu tun haben könnte?«
»Was?« Sie starrte ihn entgeistert an.
»Er könnte dir damit eins auswischen wollen. Du hast ihm Hörner aufgesetzt, nun siehst du, was du davon hast. Er weiß genau, wo du am besten zu treffen bist: wenn er dir das Gefühl gibt, eine pflichtvergessene Mutter zu sein.«
Abrupt, völlig übergangslos, schossen ihr bei diesen Worten die Tränen in die Augen. »Aber das bin ich doch auch! Nathan, genau das bin ich! Wäre ich nicht mit dir nach Skye …«
Er hielt immer noch ihre Hände fest, schüttelte sie leicht. »Psst! Keine Selbstanklagen. Auch Mütter können Krisen haben und ausbrechen. Du glaubtest Kim zu Hause gut versorgt. Wäre Grace nicht krank geworden und hätte sie sich richtig um Kim kümmern können, wäre die Kleine mit Sicherheit nicht so traurig über deine Abwesenheit gewesen. Dann kam noch dazu, dass auch Jack ausfiel. Es war einfach eine Verkettung unglücklicher Umstände. So etwas kann passieren.«
Sie nickte, zog ihre Hände aus seinen, wischte sich energisch die Tränen ab. »Keine Zeit zum Heulen«, sagte sie und stand auf. »Ich möchte noch bei ihrer Hängematte nachschauen. Wenn sie da nicht ist, laufen wir heim, und ich rufe Frederic und die Polizei an.«
Bis sie in dem dichten, dunklen Wäldchen die alte Hängematte gefunden hatten, waren sie völlig erschöpft. Von Kim war auch hier nichts zu entdecken, und es sah auch nicht so aus, als sei hier in den letzten Stunden oder Tagen ein Mensch vorbeigekommen. Nathan leuchtete die Umgebung ab, nirgendwo waren niedergetretenes Gras, abgebrochene Äste oder gar Fußspuren zu entdecken.
»Hier ist sie nicht, und hier war sie auch nicht«, sagte er. »Okay, dann zurück zum Haus!«
Auch während des Rückwegs hörten sie nicht auf, nach Kim zu rufen, aber sie erhielten keine Antwort. Als sie die hell erleuchteten Fenster des Pförtnerhauses zwischen den Bäumen hindurchschimmern sahen, wurde Virginia von der Hoffnung gepackt, Kim könnte inzwischen aufgetaucht sein und sich in Graces Obhut befinden. Aber kaum näherten sie sich dem Haus, kam die alte Frau schon herausgelaufen.
»Haben Sie sie gefunden?«, rief sie. »Haben Sie sie mitgebracht?«
Livia tauchte hinter ihr auf. Nathan tat so, als sei sie gar nicht vorhanden. »Können wir hier telefonieren?«, fragte er.
Grace kämpfte immer noch oder schon wieder mit den Tränen. »Selbstverständlich. Der Apparat ist im Wohnzimmer.«
Virginia war schon im Haus.
»Zuerst Frederic«, sagte sie, »und dann die Polizei.«
10
Frederic war mit einigen politischen Freunden bei einem Inder zum Essen gewesen, aber er hatte an der lebhaften Unterhaltung der anderen kaum teilgenommen, hatte über weite Strecken nicht einmal mitbekommen, worum es in dem Gespräch der anderen ging. Er musste immerzu an Virginia denken, daran, was sie nun gerade auf Skye mit dem anderen Mann tat. Er hätte nie gedacht, dass er unter Bildern der Art, wie sie sich ihm soeben aufdrängten, so leiden würde, dass er überhaupt der Mensch war, der sich derartigen Fantasien hingab. Sich seine Frau in der Umarmung eines anderen vorzustellen … Warum tat er das? Warum konnte er damit nicht aufhören? Und warum empfand er einen so schrecklichen, fast körperlichen Schmerz dabei? Er hätte von sich selbst stets geglaubt, zu sachlich, zu nüchtern zu sein für derartige Emotionen. Wenn die Frau fremdging, dann litt ein Mann nicht wie ein Hund. Gegen Kummer, gegen Enttäuschung gab es die Mechanismen, die man über den Verstand einschaltete, und die verhinderten, dass man zum Spielball dessen wurde, was im eigenen Inneren vor sich ging. Man ließ Emotionen, gute wie schlechte, nicht Macht über sich gewinnen. Frederic hatte stets an den Sieg des Intellekts über die Gefühle geglaubt.
Allerdings war das weit vor allen Überlegungen gewesen, Virginia könnte ihn verlassen, sich einem anderen Mann zuwenden. Virginia war die Frau seines Lebens, die Frau, mit der er alt werden wollte, daran hatte es nie den mindesten Zweifel gegeben. Er hatte vorausgesetzt, dass sie ebenso empfand. Offenbar hatte er sich gründlich getäuscht. Und zu seinem Entsetzen hatte er der Schärfe des Schmerzes nichts entgegenzusetzen. Er war ihm vollkommen hilflos ausgeliefert.
Verzweifelt versuchte er, seit er wieder in London war, den Anschein der Normalität aufrechtzuerhalten. Seine Termine wahrzunehmen, sich um wichtige
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