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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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warten. Wir treffen uns sonst draußen, aber bei diesem Wetter …«
    »Unten am Eingang, erste Tür rechts«, sagte der Junge am Klavier, »da ist ein Aufenthaltsraum. Vielleicht sitzt sie da drin.«
    »Oh, danke, vielen Dank!«, sagte Grace erleichtert. Sie schloss die Tür, und sogleich setzte dahinter wieder das schiefe, von zahlreichen Misstönen durchsetzte Konzert der Flöten ein.
    Schwerer Job, dachte sie, während sie nach unten eilte, schneller und leichtfüßiger diesmal, denn sie war nun fast sicher, Kim in dem beschriebenen Raum anzutreffen, und diese Gewissheit beflügelte sie. Kein Wunder, dass diese Frau so gereizt ist!
    Sie riss die Tür gleich rechts hinter dem Eingang auf und blickte in einen Raum voller Tische und Bänke, die in ungeordneten Gruppen herumstanden. Zweifellos der Aufenthaltsraum.
    Er war leer.
    Grace seufzte tief vor Enttäuschung. Auch hier keine Spur von Kim.
    Inzwischen war halb sechs vorbei. Hatte Kim sich auf den Weg zur Bushaltestelle gemacht, als um fünf Uhr niemand da gewesen war?
    Grace war einige Male mit der Kleinen zusammen in dem Bus gefahren, aber nur bei schönem Wetter oder wenn sie aus irgendwelchen Gründen Lust auf einen Spaziergang gehabt hatte. Denn die Ferndale House nächstgelegene Haltestelle lag immer noch eine gute halbe Stunde zu Fuß entfernt, mitten zwischen Wiesen und Feldern. Kim war noch nie allein gefahren. Grace hatte keine Ahnung, ob sie überhaupt Geld dabei hatte.
    Ein anderer Gedanke kam ihr: Vielleicht hatte der Deutsche doch noch Mrs. Quentin auf deren Handy erreicht, und diese selbst hatte ihre Tochter um fünf Uhr abgeholt.
    Die sind längst gemütlich daheim, und ich irre hier herum, dachte Grace.
    Trotz des Regens umrundete sie noch einmal das ganze Schulgelände, schaute auch in den Toiletten nach, die in einem gesonderten kleinen Gebäude untergebracht waren, und als sie sicher war, dass sich Kim dort tatsächlich nirgends aufhielt, ging sie zu ihrem Auto zurück und stieg ein. Sie sehnte sich danach, endlich den nassen, eiskalten Schuh ausziehen zu können. Ihre schmerzenden Glieder auszustrecken. Vor sich hin zu dösen und nicht nachdenken zu müssen.
    Sie startete ihr Auto.
    Bestimmt ist Kim daheim, sagte sie sich noch einmal. Es war zehn vor sechs, als sie losfuhr. Sie hatte ein ungutes Gefühl.
     
    6
     
    Frederic und Virginia verließen das Cafe in der Main Street um kurz nach sechs Uhr. Sie hatten eine gute Stunde dort verbracht, jeder zwei Tassen Kaffee getrunken, einander angeschaut, ein Gespräch zu führen und das Geschehene zu begreifen versucht.
    Als er sie am Bahnhof erblickte, hatte Frederic gesagt: »Du solltest mich doch nicht abholen! Ich hatte dir …«
    »Ich weiß«, hatte sie ihn unterbrochen, »aber ich wollte irgendwo mit dir sprechen, wo uns Kim nicht hören kann.«
    »Wie geht es ihr?«
    »Besser. Sie wirkte ganz ausgeglichen heute früh.« »Wer holt sie von der Schule ab?«
    »Grace«, log Virginia. Ihm in diesem Moment zu erklären, dass es ihr Liebhaber war, der Frederics Tochter abholte, erschien ihr unmöglich. Eine Notlüge hingegen angesichts der Umstände verzeihlich.
    Frederic kommentierte den Umstand, dass Virginia in seinem Auto gekommen war, nicht; vielleicht, so dachte sie, fiel es ihm gar nicht wirklich auf. Sie war erleichtert, denn so musste sie ihm nicht offenbaren, dass sie ihr Auto an Nathan verliehen hatte.
    Im Cafe hatte lange Zeit keiner von ihnen einen Anfang gefunden. Virginia merkte, mit welch geschärfter Aufmerksamkeit Frederic sie musterte, und ihr war klar, was er sah und wie es auf ihn wirken musste. Trotz der gestrigen Aufregung um Kim, trotz der Sorgen, die sie sich der ganzen Situation wegen machte, sah sie aus wie eine glückliche Frau, das hatte sie im Spiegel festgestellt und nicht ändern können. Rosige Wangen, leuchtende Augen, eine Art inneres Strahlen, das selbst dann auf ihrem Gesicht lag, wenn sie ernst dreinblickte. Das, was sie stets so verhärmt und sorgenvoll hatte erscheinen lassen, war wie von Zauberhand weggewischt. Die Lebenslust, für die sie als junge Frau bewundert worden war und die die Männer um sie herum so anziehend gefunden hatten, war dabei, wieder zu erwachen. Das war es, was sie so erstaunt hatte, als sie sich am Morgen im Spiegel gemustert hatte, nach dieser wunderbaren, verzauberten Nacht mit Nathan: Sie sah aus wie die zwanzigjährige Virginia. Da war wieder dieses lebendige, herausfordernde, neugierige Glitzern in ihren Augen. Als hätte es

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