Das Echo der Schuld
ärgerte sich, dass sie nicht pünktlich war, denn für gewöhnlich war absolute Zuverlässigkeit ihre herausragende Tugend. Aber sie hatte nicht geahnt, wie schwer ihr jede Bewegung fallen, wie lange sie allein zum Anziehen brauchen würde. Als sie sich hinuntergebeugt hatte, um sich die Schuhe zuzubinden, war ihr am ganzen Körper der Schweiß ausgebrochen, und es war ihr so schwindelig geworden, dass sie sich wieder hatte aufrichten und minutenlang abwarten müssen, ehe sie den nächsten Anlauf wagte.
»Ich bin richtig krank«, jammerte sie leise, »richtig krank. Ausgerechnet jetzt!«
Der Regen war in leichtes Nieseln übergegangen und hüllte die Welt in graue Trostlosigkeit. Das rote Backsteingebäude, in dem die Schule untergebracht war, schien still und verlassen, auf dem geteerten Schulhof hatten sich viele Pfützen gebildet, auf der Mauer am Eingang saß ein kleiner Spatz und blickte etwas trübsinnig in die Welt.
Genau auf dieser Mauer saß auch Kim für gewöhnlich, wenn sie und Grace sich an der Schule trafen und Kim früher als erwartet herausgekommen war. Heute konnte Grace außer dem Spatz niemanden entdecken, was ihr aber angesichts des Regens nicht verwunderlich schien.
Sie ist drinnen, natürlich, dachte sie müde. Nun musste sie einen Parkplatz suchen und das Auto verlassen, und das, obwohl das Fieber sie am ganzen Körper zittern ließ. Ihr blieb nichts erspart an diesem Tag. Mehr denn je sehnte sie sich nach ihrem Bett, einer Tasse heißem Tee und Ruhe, viel Ruhe.
Sie stellte den Wagen einfach im Parkverbot direkt vor der Schule ab, stieg aus und eilte, so schnell sie konnte, über den Hof. Sie hatte vergessen, einen Schirm mitzunehmen. In ihrer Hast trat sie mitten in eine Pfütze und merkte gleich darauf, wie sich ihr Schuh und ihr Strumpf mit kaltem Wasser vollsogen.
»Scheiße«, murmelte sie inbrünstig.
Endlich hatte sie das schützende Vordach erreicht und zog die große gläserne Schwingtür auf, die in das hohe Treppenhaus führte. Rechts und links des Eingangs waren Tafeln und Pinnwände angebracht, auf denen sich eine Vielzahl Zettel und Inschriften befanden: Informationen, Aufrufe, Nachrichten aller Art. Man ging drei Stufen hinauf und stand in der riesigen Halle, in der auch Versammlungen abgehalten oder Vorträge veranstaltet wurden. Aus der Mitte führte eine breite Treppe hinauf zu einer Galerie mit steinerner Brüstung. Von dort gingen zahlreiche Türen in die verschiedenen Klassenzimmer, Büros und Konferenzräume ab.
Die Halle war menschenleer.
Grace hatte erwartet, Kim auf der Treppe sitzend anzutreffen, und sah sich nun suchend um. Nirgendwo konnte sie das kleine Mädchen entdecken.
Stirnrunzelnd wandte sie sich um, spähte durch die Glastür ins Freie. War Kim doch draußen? Unter einem der Bäume vielleicht? Nein, auch dort stand niemand.
Ihr nasser Fuß war eisig kalt, in ihrem Schuh quietschte das Wasser. Grace nieste und umrundete einmal die ganze Halle, stieg dann die Treppe hinauf, wobei sie sich krampfhaft am Geländer festhielt. Ihre Knie zitterten.
Von irgendwoher klang leise Klavier- und Flötenmusik. Auf gut Glück öffnete Grace ein paar Türen, schaute in leere Klassenzimmer hinein. Nichts. Keine Spur von Kim.
In einem der hinteren Räume stieß sie auf eine Gruppe von zehn Jungen und Mädchen, die unter der Leitung einer gestresst wirkenden jungen Frau mehr schlecht als recht auf ihren Blockflöten herumfiepten. Ein Junge saß am Klavier und schlug ebenso kräftig wie ungekonnt in die Tasten.
»Ja, bitte?«, fragte die Lehrerin genervt, als sie Grace erblickte. Die Kinder ließen erleichtert ihre Instrumente sinken.
Grace nieste wieder. Sie hätte dringend ein Taschentuch gebraucht, konnte aber in ihrer Manteltasche keines finden.
»Entschuldigen Sie bitte, ich wollte hier die Tochter einer … einer Bekannten abholen. Ihr Unterricht war um fünf Uhr zu Ende. Leider war ich nicht ganz pünktlich. Nun kann ich sie nirgendwo finden.«
»Also, hier ist sie nicht«, sagte die Lehrerin. »Oder?«
»Nein. Nein, Kim spielt nicht Flöte. Vielleicht kennen Sie sie trotzdem? Kim Quentin.«
Der jungen Frau war anzumerken, dass es ihr schwer fiel, höflich zu bleiben. »Nein, ich kenne sie nicht. Und meines Wissens sind wir mit unserer Flötengruppe die Letzten, die sich heute noch im Haus aufhalten. Außer dem Hausmeister dürfte hier niemand sonst mehr sein.«
»Ich verstehe … Gibt es hier eine Art Aufenthaltsraum? Irgendwo muss Kim ja auf mich
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