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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Anteilnahme, und traurig dachte sie, dass diese junge Frau eine Freundin für sie hätte werden können – wäre nicht alles ganz anders gekommen.
    »Ich gebe Ihnen die Telefonnummer meiner Bekannten in Deutschland«, sagte Livia schließlich, »dort werde ich auf jeden Fall in der nächsten Zeit erreichbar sein. Es wäre nett, wenn Sie mich anrufen könnten, sobald Kim wieder bei Ihnen ist. Ich möchte es gern wissen.«
    »Natürlich. Das mache ich, Livia.« Virginia schrieb die Telefonnummer auf.
    »Noch etwas …« Livia zögerte. »Sie könnten die Nummer auch an meinen Mann weitergeben. Vielleicht möchte er Kontakt zu mir aufnehmen. Es wird sicher manches zu regeln sein.«
    »In Ordnung«, sagte Virginia.
    Sie verabschiedeten sich voneinander. Virginia legte den Hörer auf, lief hinauf in das Zimmer ihrer Tochter. Nervös rückte sie die Stofftiere zurecht, die auf der Fensterbank saßen, zupfte an den weißen Gardinen. Sie betrachtete den Zeichenblock, der auf dem Schreibtisch lag, daneben stand noch der Kasten mit den Wasserfarben. Kim hatte versucht, ein Pferd zu malen. Es sah ein bisschen nach einer verunglückten Ratte aus.
    Lass sie zurückkehren, lieber Gott! Lass sie bald wieder zurückkehren und lass sie wieder glücklich werden!
    Getrieben von Angst und Hilflosigkeit, lief sie wieder hinunter und wählte die Nummer von der Pension, in der Nathan abgestiegen war. Eine schlechtgelaunte Frau meldete sich und erklärte, Mr. Moor sei zu einem Strandspaziergang aufgebrochen. Sie wisse nicht, wann er zurückkommen werde.
    Warum rief er nicht an? Erkundigte sich nicht nach Kim?
    Fragte nicht, wie es ihr, Virginia, ging? Konnte er sich nicht vorstellen, wie elend sie sich fühlte?
    Kurz nach ein Uhr am Mittag tauchte Frederic wieder auf.
    »Ihr habt nichts gefunden«, sagte Virginia. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
    »Nein.« Frederic fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er war sehr blass, seine Augen vor Müdigkeit gerötet. »Nichts. Wir waren noch einmal am Baumhaus. An den Brombeerhecken, unter denen sie die Höhlen gebaut hat. Wir sind einen Teil des Schulwegs abgelaufen. Aber nirgends war eine Spur zu finden.«
    Sie streckte die Hand aus und strich ihm kurz über den Arm. »Leg dich ein bisschen hin. Du siehst entsetzlich erschöpft aus.«
    »Ich glaube nicht, dass ich jetzt Ruhe finde«, meinte Frederic, aber als Virginia ein paar Augenblicke später aus der Küche, wo sie für ihn ein Glas Wasser geholt hatte, ins Wohnzimmer zurückkehrte, fand sie ihn schlafend in seinem Sessel am Fenster vor.
    Sie stand gerade im Schlafzimmer vor dem Kleiderschrank, um sich etwas Wärmeres zum Anziehen zu suchen – sie fror an diesem Tag ständig, obwohl es eigentlich nicht kalt war –, als ihr Handy klingelte. Sie vermutete sofort, dass es Nathan war, der anrief, und war froh, dass sie sich im ersten Stock und weit weg von Frederic befand.
    Nathan klang recht munter.
    »Guten Morgen, Darling«, sagte er, unbekümmert darum, dass es bereits nach ein Uhr war. »Ich war lange am Meer. Es ist herrliches Wetter heute, blauer Himmel und Sonne – falls du das durch deine dichten Bäume hindurch überhaupt schon bemerkt hast?«
    Sie fand seinen Ton völlig unangemessen.
    »Mein Kind ist verschwunden. Mir war bislang wirklich nicht danach zumute, über das Wetter nachzudenken.«
    »Sie ist immer noch nicht wieder aufgetaucht?«
    »Nein. Was du wüsstest, wenn du mich irgendwann im Lauf des Vormittages einmal angerufen und dich nach ihr erkundigt hättest!«
    Er seufzte. »Entschuldige. Ich dachte, sie ist sicher wieder da. Es ist schwierig für mich, bei dir anzurufen. Ich weiß doch nicht, ob dein Mann nicht gerade neben dir sitzt. Das fühlt sich für mich auch nicht gerade gut an.«
    »Das kann ich verstehen, ja.«
    »Ich habe eine Idee«, meinte er. »Du kommst hierher zu mir, wir laufen ein Stück am Meer entlang, und du versuchst ein bisschen ruhiger zu werden. Wie wäre das?«
    »Ich möchte nicht von hier fort.«
    »Du kannst doch im Moment gar nichts machen.«
    »Ich will trotzdem hier sein. Vielleicht taucht Kim plötzlich auf und …«
    Er seufzte. »Ich würde ja zu dir kommen. Aber ich habe wenig Lust, Frederic zu begegnen, und außerdem muss ich mit dem Benzin haushalten. Ich denke wirklich, du solltest …«
    Sie hatte sich danach gesehnt, von ihm getröstet und gestützt zu werden, aber auf einmal war dieser Wunsch wie weggeblasen. Es war nicht die Zeit, sich trösten zu lassen.

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