Das Echo der Schuld
plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie hatte niemanden kommen gehört. Als sie sich zaghaft umwandte, blickte sie in das strenge Gesicht der Dame aus dem Maklerbüro. Heute trug sie ein graues Kostüm und sah genauso gepflegt und adrett aus wie schon am Montag.
»Du schon wieder«, sagte sie.
Janie lächelte hilflos.
»Weißt du, langsam glaube ich, dass mit dir irgendetwas nicht in Ordnung ist«, sagte die Dame, »und ich finde, ich sollte jetzt wirklich deine Mutter anrufen.«
»Es ist alles okay«, beteuerte Janie hastig, »ich wollte sowieso gerade weitergehen und …«
Sie machte einen Schritt zur Seite, aber die Hand der Dame griff erneut zu. Diesmal an Janies Oberarm. Ziemlich fest. Es war ein Griff, der sich nicht so leicht abschütteln ließ.
»Du müsstest doch um diese Zeit in der Schule sein, stimmt's? Und außerdem finde ich es merkwürdig, dass du dich immer gerade an dieser Ecke herumtreibst. Hier gibt es doch überhaupt nichts, was für dich interessant sein könnte!«
Janies Augen füllten sich mit Tränen. Die Fremde verdarb ihr alles. Alles!
»Wir gehen jetzt in mein Büro und rufen deine Mutter an«, sagte die Dame und dirigierte Janie durch die Glastür hinein in das Maklerbüro. »Setz dich!« Sie wies auf einen von zwei schwarzen Stühlen, die vor einem ebenfalls schwarzen, sehr ordentlich aufgeräumten Schreibtisch standen. Sie selbst nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz, griff nach dem Telefonhörer.
»Sagst du mir bitte eure Telefonnummer?«
»Meine Mum ist nicht zu Hause«, flüsterte Janie. Sie hatte eigentlich in ganz normaler Lautstärke sprechen wollen, aber ihre Stimme schien ihr nicht richtig zu gehorchen.
»Wo ist deine Mum?«
»Sie arbeitet.«
»Wo?«
»Ich weiß nicht.«
Die Dame setzte wieder ihren strengen Blick auf. »Ich kann auch gleich die Polizei anrufen, Miss … Wie heißt du eigentlich?«
»Janie«, murmelte sie.
»Also, Janie, hör mal zu, ich mache mir Sorgen um dich. Du schwänzt die Schule und treibst dich hier aus unerfindlichen Gründen herum – und das bereits zum zweiten Mal, jedenfalls soweit ich weiß. Vielleicht geht das auch schon länger, und ich habe es vorher bloß nicht bemerkt. Ich möchte diese Angelegenheit jetzt klären. Entweder du sagst mir, wie ich deine Mutter oder deinen Vater erreichen kann, oder ich übergebe dich der Polizei. So einfach ist das!«
»Meine Mum arbeitet in einer Wäscherei«, sagte Janie. Die Tränen liefen ihr nun in Strömen über das Gesicht. Sie beugte sich über ihre Schultasche, kramte darin herum und förderte schließlich einen Zettel zutage. »Hier ist die Telefonnummer.«
»Na also«, sagte die Dame. Sie nahm den Zettel und tippte in rasantem Tempo auf der Telefontastatur herum. »Es geht doch!«
»Dass du mir so etwas antust!« Doris hatte sich eine Zigarette angezündet, aber die war schon wieder erloschen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie stand mitten im Wohnzimmer, noch mit dem weißen Kittel bekleidet, den sie in der Wäscherei immer trug. Ihre Haare waren straff zurückgebunden, kräuselten sich an der Stirn durch die Feuchtigkeit, der sie an ihrem Arbeitsplatz stets ausgesetzt war. Sie sah grau und elend aus.
Aber das tut sie eigentlich immer, dachte Janie.
»Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie ärgerlich die Chefin war, weil ich plötzlich wegmusste? In welchen Rückstand die dort jetzt geraten, weil ich ausfalle? Damit schaffe ich mir keine Freunde, verstehst du? Wenn dort das nächste Mal Arbeitsplätze gestrichen werden, sind das genau die Vorfälle, an die man sich dann erinnert. Selbst dir müsste klar sein, wie brenzlig unsere Lage wird, wenn ich meinen Job verliere!«
»Du hättest mich ja nicht abholen müssen …«
»Ach ja? Wenn ich einen Anruf bekomme, dass meine achtjährige Tochter die Schule schwänzt und sich auf der Straße herumtreibt – dann soll ich so tun, als ob nichts wäre, und einfach weitermachen? Was hätte ich denn zu dieser affigen Maklerin sagen sollen? Interessiert mich nicht, was mein Kind so treibt, schicken Sie es wieder auf die Straße? Soll ich dir mal was sagen? So, wie die drauf war, hätte die uns das Jugendamt auf den Hals gehetzt. Wärst du gerne am Ende in einem Heim gelandet?«
So weit hatte Janie nicht gedacht. Als ihre Mutter mit dem Gesichtsausdruck eines Racheengels in das Büro gestürmt war – einen fast Schmerz erregenden Kontrast zu der Dame im grauen Kostüm bildend – und ihre Tochter so hart an der Hand
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