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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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bekam und dass er sich nicht länger mit Virginia unter einem Dach aufhalten musste. Und auch sie war froh, dass er weg war, empfand sie ihn doch als einen einzigen stummen Vorwurf.
    Als das Schrillen des Telefons die Stille zerriss, schrak sie so heftig zusammen, als wäre ein Pistolenschuss gefallen.
    Die Polizei. Vielleicht war es die Polizei. Vielleicht hatten sie Kim gefunden!
    Ihr Herz raste, als sie den Hörer abnahm.
    »Ja?«, fragte sie atemlos.
    Es verging ein Moment, dann sagte eine leise, gepresst klingende Stimme: »Hier ist Livia Moor.«
    »Oh«, sagte Virginia nur.
    »Ich … ich rufe aus London an. Ich bin hier in einem Hotel. Man hat mir in der Botschaft mit Geld ausgeholfen. Heute Abend fliege ich nach Deutschland.«
    Virginia hatte sich noch immer nicht von ihrer Verlegenheit erholt. Sie liebte den Mann dieser Frau. Sie würde mit ihm zusammenbleiben. Am liebsten hätte sie einfach aufgelegt.
    »Wie geht es Ihnen?«, fragte sie unbeholfen und fand sich selbst idiotisch.
    »Nicht besonders gut«, antwortete Livia mit einer für sie ungewöhnlichen Direktheit, »aber wenigstens habe ich erst einmal eine Bleibe. Eine Freundin meiner verstorbenen Mutter nimmt mich bei sich auf. So lange, bis ich … nun ja, ich muss Arbeit finden. Ich hoffe, dass mir das gelingt.«
    »Ich wünsche es Ihnen so sehr.«
    »Danke. Ich rufe an, weil ich … ich brauchte Geld für meine Fahrt nach London. Ich habe es von … meinem Mann genommen, aber ich weiß, dass es eigentlich Ihr Geld ist. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass ich es Ihnen zurückzahlen werde. Sobald ich Arbeit habe, sobald ich ein bisschen was zurücklegen kann, schicke ich Ihnen …«
    »Das brauchen Sie nicht. Wirklich nicht.«
    Livia schwieg wieder einen Moment. Es klang nicht hämisch, als sie dann sagte: »Sie sollten das Geld nicht ablehnen, Virginia. Wenn Sie in Zukunft mit meinem Mann zusammenleben, werden Sie es brauchen.«
    Nun schwieg Virginia eine Weile. Ihre Hand hielt den Telefonhörer so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Endlich gelang es ihr zu antworten: »Es tut mir leid, Livia. Ich weiß, dass Nathan und ich … dass wir zwei Menschen sehr verletzen. Sie und Frederic. Ich … wünschte …« Sie sprach nicht weiter. Was sollte sie auch sagen? Ich wünschte, das alles wäre nicht geschehen? Das wäre gelogen gewesen.
    Ich wünschte, wir müssten niemandem dabei wehtun.
    Das klang lächerlich. Zumindest wohl in Livias Ohren. Also ließ sie den begonnenen Satz einfach stehen.
    »Wissen Sie«, sagte Livia, »nach all den Jahren mit Nathan empfinde ich fast auch ein wenig Erleichterung. Ich bin sehr traurig, und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, aber in den letzten Tagen habe ich begriffen, dass es auch so … ich meine, auch ohne Sie nicht einfach weitergegangen wäre. Und nicht nur, weil das Schiff untergegangen ist. Wir waren vorher schon am Ende. Er klammerte sich an dem Gedanken dieser Weltumsegelung fest, und ich redete mir ein, dass wir beide glücklich werden würden, wenn er nur glücklich wäre … Aber so funktioniert es eben nicht. Ich habe dieses Schiff gehasst. Ich habe die Häfen gehasst. Die Jobs, die ich mir suchen musste. Ich bin ein Mensch, der ein festes Zuhause braucht. Ich will Blumen pflanzen und über den Gartenzaun hinweg mit meinen Nachbarn reden und in meiner eigenen Waschmaschine waschen und morgens beim Bäcker Brötchen holen und mit den Leuten plaudern, die ich dort treffe … Ich will nicht heute hier und morgen da wohnen und nie jemanden näher kennen lernen, weil ich nie lange genug an einem Ort bin. Ich will … ich will Kinder, Virginia. Ich sehne mich so sehr nach Kindern. Und sie sollen in Ruhe und Sicherheit aufwachsen.«
    Kinder.
    »Kim ist verschwunden«, sagte Virginia. »Schon wieder?«
    »Nach der Schule. Gestern. Aber wir haben sie bis jetzt nicht gefunden.«
    »Das muss … schrecklich für Sie sein.«
    Virginia merkte, wie ihr angesichts des echten Mitgefühls in Livias Stimme die Tränen kamen. Verzweifelt kämpfte sie dagegen an.
    »Ja«, sagte sie, »es ist ganz furchtbar. Die Polizei sucht mit Hundestaffeln nach ihr. Frederic und unser Verwalter sind auch gerade wieder losgezogen. Ich frage mich, wo sie die ganze Nacht …« Ihre Stimme brach, sie verstummte. Die Bilder, die vor ihrem inneren Auge aufstiegen, waren zu grausam.
    »Mein Gott, Virginia!«, sagte Livia, und dann schwiegen sie beide, aber Virginia spürte aus Livias Schweigen größte

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