Das Echo der Schuld
Es war die Zeit, nichts unversucht zu lassen, um Kim zu finden.
»Nein«, unterbrach sie ihn, und weil sie selbst merkte, wie schroff sie geklungen hatte, fügte sie besänftigend hinzu: »Tut mir leid. Ich weiß, du meinst es gut.«
Er wirkte ein wenig beleidigt. »Ich kann dich nicht zwingen. Wenn du es dir anders überlegst … du hast ja meine Adresse.« Damit legte er den Hörer auf.
Sie schaltete ihr Handy aus, betrachtete das Display, das ein Foto von Kim zeigte – Kim, die ihre Wange in das weiche Fell ihres Teddybären drückte.
»Wo bist du nur?«, flüsterte sie. »Mein Liebstes, wo bist du nur?«
In einem Punkt hatte Nathan Recht gehabt: Sie konnte hier im Haus im Moment nicht viel unternehmen, und es tat ihren Nerven nicht gut, in den Räumen umherzuwandern und sich von albtraumhaften Bildern bedrängen zu lassen.
Sie schrieb einen Zettel für den schlafenden Frederic, legte ihn auf den Küchentisch: Ich gehe spazieren. Muss einfach raus, sonst ersticke ich. Virginia.
Fünf Minuten später saß sie im Auto und fuhr durch das Parktor hinaus, ließ die dichten, dunklen Bäume hinter sich. Das weite, grüne Land öffnete sich vor ihr.
Es stimmte, was Nathan gesagt hatte: Der Himmel war blau, und die Sonne schien.
4
Obwohl es Mittwoch war und daher nicht der Vereinbarung entsprach, stand Janie um halb zwei vor dem Maklerbüro gegenüber dem Schreibwarengeschäft und behielt wieder einmal mit aller Konzentration die Eingangstür im Auge. Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und über ihre Geburtstagsparty nachgedacht, und irgendwann war ihr der Gedanke gekommen, dass sich der fremde Mann, der schließlich so überaus nett zu ihr gewesen war, vielleicht gar nicht über sie geärgert hatte, sondern dass er nur aus irgendeinem Grund seine Gewohnheiten verändert hatte. Menschen taten das ständig, und anstatt jeden Montag zu dem Schreibwarengeschäft zu kommen, tat er es nun womöglich an jedem Mittwoch oder Donnerstag. Da er von Janie nur den Vornamen und keine Adresse kannte, konnte er sie davon natürlich nicht unterrichten.
Es war auf jeden Fall einen Versuch wert.
Unglücklicherweise musste sie allerdings dafür wieder die Schule schwänzen. Diesmal nicht den Sportunterricht. Von ein bis zwei Uhr aßen sie zu Mittag, und sie hoffte, es werde nicht allzu sehr auffallen, dass sie daran nicht teilnahm. Von zwei bis vier Uhr hatten sie Zeichnen. Die Lehrerin würde natürlich merken, dass jemand fehlte. Sie würde fragen, und die anderen Kinder würden sich erinnern, dass Janie den Vormittag über da gewesen war. Sicher dachten alle, ihr wäre schlecht geworden. Neulich war auch ein Kind mittags nach Hause gegangen, weil ihm schlecht war. Allerdings hatte es sich abgemeldet. So war es vorgeschrieben. Man durfte nicht einfach abhauen.
Sie würde Ärger bekommen, gar keine Frage. Es war erstaunlich, dass sich wegen des Schwänzens vorgestern noch nichts getan hatte. Sicher würden sie Mum einen Brief schicken. Diesen abzufangen dürfte nicht allzu schwer sein, denn Janie war ja immer zuerst daheim und nahm die Post mit hinauf. Ihr schwante nur, dass sich die Schule auf die Dauer nicht damit zufrieden geben würde, Benachrichtigungen zu versenden, die immer ohne Antwort blieben. Aber bis der Krach richtig losging, hatte sie vielleicht den netten Mann schon wiedergetroffen, und wenn sie Mummie dann erklärte, worum es gegangen war – und dass es sich niemals wiederholen würde –, wäre sicher bald alles im Lot.
Hoffentlich.
Sie blickte auf ihre Uhr. Zehn Minuten nach zwei. Niemand hatte das Geschäft betreten, niemand war herausgekommen. Wenn er nun wieder nicht kam … Dann müsste sie morgen erneut ihren Beobachtungsposten einnehmen. Welche Fächer versäumte sie? Musik, soweit sie wusste. Mist. Miss Hart, die den Unterricht gab, war streng und immer etwas hysterisch. Sie regte sich über alles auf, ging sofort auf die Barrikaden, wenn ein Schüler nur flüsterte oder im falschen Moment mit einem Papier raschelte. Janie seufzte. Miss Hart würde einen ziemlichen Zirkus veranstalten, das stand fest.
Und woher wusste sie überhaupt, dass der Fremde nicht auch die Uhrzeit seiner Besuche im Schreibwarenladen geändert hatte? Vielleicht kam er morgens um neun hierher. Eigentlich müsste sie von morgens bis abends auf ihrem Beobachtungsposten Wache halten. Also morgens direkt von daheim hierhergehen, sich überhaupt nicht in der Schule blicken lassen …
Sie zuckte zusammen, als sich
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