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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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ich bald Geburtstag hätte. Ich habe ihm dann erzählt, dass du nicht möchtest, dass ich meine Freunde einlade und dass ich … dass ich ziemlich traurig deswegen bin …«
    Doris nickte langsam. Dann stand sie plötzlich entschlossen auf, streifte ihren weißen Kittel ab und griff nach ihrer Handtasche.
    »Komm«, sagte sie zu ihrer Tochter. Janie sah sie unsicher an. »Wohin?«
    »Wir gehen jetzt sofort zur Polizei. Dort wirst du alles erzählen, was du mir eben erzählt hast, und du wirst diesen Mann ganz genau beschreiben. Das ist wichtig.«
    »Mummie! Nicht zur Polizei! Ich will nicht in ein Heim!«
    »Du kommst nicht in ein Heim. Ganz bestimmt nicht. Aber wenn wir Glück haben, kommt dein neuer Freund ins Gefängnis.«
    »Er hat aber doch gar nichts gemacht!«
    Doris schloss für einen Moment die Augen. »Nein«, sagte sie dann leise, »mit dir hat er nichts gemacht. Es hat nicht funktioniert. Und zum ersten Mal in meinem Leben danke ich dem lieben Gott aus tiefstem Herzen für einen verdorbenen Magen!«
    Janie verstand absolut nicht, was ihre Mutter meinte. Aber wenigstens schien sie nicht mehr sauer zu sein. Und das war weit mehr, als Janie noch eine halbe Stunde zuvor zu hoffen gewagt hätte.
     
    5
     
    Sie hatte eine Stunde lang geweint, all die Angst und Verzweiflung der letzten Stunden herausgeschluchzt, und es ging ihr hinterher ein wenig besser. Es war nicht so, dass ihre Ängste verschwunden gewesen wären, das konnten sie nicht, ehe nicht Kim sicher und wohlbehalten wieder daheim war. Aber der Druck hatte sich ein wenig gelöst, die starren Finger der Furcht lagen nicht mehr so schmerzhaft um sie gekrallt.
    »Sie kommt natürlich zurück«, hatte sie am Ende zu sich selbst gesagt, sich gründlich die Nase geputzt und aufgehört zu weinen.
    Ohne dass sie sich das zuvor überlegt hatte, war sie, einem inneren Bedürfnis folgend, zu Kims Schule gefahren, hatte das Auto in einiger Entfernung geparkt und war zu dem Gebäude hinübergelaufen, dessen Hof und Grünanlagen gerade von Hunderten von Schülern bevölkert wurden, die ihre Mittagspause genossen. Sie spielten Nachlaufen, hüpften durch kreidegemalte Kästchen, gingen in kleinen Trupps spazieren oder saßen in der Sonne. Rufen, Lachen und Schreien erfüllten die Luft.
    Bis zum gestrigen Tag war Kim eine von ihnen gewesen.
    Kim musste wieder eine von ihnen werden. Alles andere war nicht vorstellbar.
    Es war nicht so, dass Virginia geglaubt hätte, Kim hier aufstöbern oder auch nur eine wirklich brauchbare Spur von ihr finden zu können. Frederic und Jack hatten die Schule und das gesamte Umfeld so gründlich abgesucht, dass ihnen kaum etwas entgangen sein konnte. Sie hatte nur plötzlich den Wunsch verspürt, ihrem Kind nahe zu sein, den Platz aufzusuchen, von dem sie sicher wusste, dass es zuletzt dort gewesen war. Ehe es verschwand.
    Dort hatte Kim gestanden. Vor dem großen Eisentor, das so mächtig, so gewaltig wirken musste hinter einem kleinen, siebenjährigen Mädchen. Es hatte geregnet, nicht einfach nur ein wenig genieselt, sondern das Wasser war in Strömen zur Erde gerauscht. Trotzdem hatte sich Kim offensichtlich nirgendwo untergestellt. Sie musste sehr sicher gewesen sein, dass jeden Moment jemand kommen und sie abholen würde. So sicher, dass es ihr nicht mehr lohnend erschienen war, zurück ins Schulgebäude zu laufen und Schutz vor dem Schauer zu suchen.
    Sie war so vertrauensvoll.
    Zu wem ist sie eingestiegen?
    Virginia hatte auf dem Gehweg gestanden und die Stelle angestarrt, an der ihr Kind gewartet haben musste, und sie hatte versucht, etwas von dem zu erfassen, was in Kim vorgegangen war.
    Bist du gar nicht bei irgendjemandem eingestiegen? Die Zeit verstrich, niemand kam. Du dachtest, dass Mummie schon wieder nicht da ist. So, wie sie an deinem ersten Schultag nicht da war. Du bist in Panik geraten, hast dich verlassen und einsam gefühlt. Du wolltest nur noch weg, so wie am Abend zuvor. Aber wohin bist du gelaufen? Wohin nur?
    Sie hatte an Skye gedacht. An ihre wilde, rücksichtslose Flucht. Die Nächte mit Nathan. Ihre Entscheidung, ihr weiteres Leben mit ihm zu verbringen. Bei all dem war sie nicht gerade sanft mit den Gefühlen ihrer Umwelt umgegangen. Nicht mit Frederics Gefühlen, aber auch nicht mit denen von Kim. Frederic hatte schließlich begriffen, was geschah. Kim hatte es nur gespürt, und das mochte noch schlimmer, noch bedrohlicher gewesen sein. Sie war einmal weggelaufen und nun womöglich ein zweites Mal. Sie

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