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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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zusammen und ging ins Haus. Sie wusch sich lange die Hände, schrubbte ihre Fingernägel, unter denen Erde klebte. Sie schaute sich die Nachrichten im Fernsehen an, stand dann am Fenster und beobachtete, wie es ganz langsam dunkel wurde. Sie stellte sich vor, wie es wäre, in einem Penthouse in New York zu stehen und auf die Lichter der Stadt zu blicken. Ein Gedanke, der eine Sehnsucht weckte, die beinahe wehtat.
    Als das Telefon klingelte, war ihr erster Impuls, es zu ignorieren und sich nicht zu melden. Vielleicht war es eine ihrer Freundinnen, die Lust auf ein langes Gespräch hatte, während sie selbst richtig müde war und mit niemandem reden wollte. Ins Bett gehen mit einem Glas Wein und einem guten Buch. Das war es, worauf sie Lust hatte.
    Später fragte sie sich oft, ob ihre Scheu, den Hörer aufzunehmen, in etwas anderem begründet war als in ihrer Müdigkeit. Ob nicht ihr Unterbewusstsein eine Warnung ausgesprochen hatte. Denn die Tragödie, die sich später ereignete, wäre nicht geschehen, hätte sie den Apparat einfach läuten lassen und sich ins Bett gelegt.
    Aber dann dachte sie, dass es Michael sein könnte, dessen Fahrrad vielleicht kaputt war und der abgeholt werden wollte, obwohl es dafür eigentlich zu früh war. Also überwand sie sich und hob ab.
    »Virginia Delaney.«
    Ein ganz kurzes Schweigen folgte, und dann erklang jene Stimme, bei der sie noch immer weiche Knie bekam und einen trockenen Mund: »Virginia? Hier ist Andrew.«
    »Oh«, war alles, was sie als Reaktion hervorbrachte.
    Wiederum herrschte ein Moment des Schweigens, dann fragte Andrew: »Wie geht es dir?«
    Sie hatte sich wieder einigermaßen gefangen. »Gut. Danke. Wie geht es dir?«
    »Auch gut. Aber …«
    »Ja?«
    »Ich würde dich gern sehen«, sagte Andrew.
    »Ich weiß nicht, ich …«
    »Wenn es geht, jetzt gleich«, sagte Andrew.
    Sie hätte so vieles sagen können. Dass Michael da sei und sie nicht einfach wegkönne. Dass sie kein Auto habe. Dass sie müde sei. Oder sie hätte ihn fragen können, was er sich einbilde, einfach daherzukommen, abends um acht Uhr anzurufen und sie herbeizuzitieren. Sie hätte sagen können, er solle sich zum Teufel scheren, und dann einfach auflegen.
    Stattdessen schaute sie zum Fenster hinaus. Dort parkte das Auto. Wie üblich am Hang. Michael hatte ja das Fahrrad genommen.
    »Wo bist du?«, fragte sie.
    »Im Old Bridge Hotel in Huntingdon.«
    »In einem Hotel?«
    Er lachte. »Im Restaurant des Hotels. Sie haben fantastisches Essen hier. Und eine große Auswahl an Weinen.«
    Sie hatte ihn nie mehr wiedersehen wollen. Er hatte sie zu sehr verletzt. Sie wusste, dass es besser wäre, bei diesem Entschluss zu bleiben und jeden Kontakt mit ihm zu unterlassen.
    »Okay«, sagte sie, »aber nur auf einen Drink!«
    Sie konnte ihn durch die Leitung förmlich grinsen hören.
    »Klar«, sagte er, »nur auf einen Drink!«
     
    Für den weiteren Verlauf der Dinge war es unerheblich, was im Hotel geschehen war, es hatte nur insofern eine Bedeutung, als die Tatsache, dass ihre Begegnung weit über einen Drink hinausgegangen war, später ihre Schuldgefühle verschärfte. Sie waren nur kurz im Restaurant gewesen, dort aber nicht über eine Vorspeise hinausgekommen, weil die Begegnung mit Andrew Virginia so durcheinander brachte und zugleich so ärgerlich über sich selbst werden ließ, dass sie keinen Bissen herunterbekam.
    Er hatte ihre Hand genommen und gefragt: »Soll ich nicht doch ein Zimmer nehmen?«
    Und sie hatte genickt und sich dafür gehasst.
    Sie war verschwitzt von der Gartenarbeit, und sie hatte absichtlich nicht geduscht, hatte keine frische Wäsche angezogen, in der Hoffnung, es wäre ihr dann vielleicht zu peinlich, mit ihm ins Bett zu gehen. Sie hatte vergessen – oder verdrängt –, dass ihr nie etwas zu peinlich gewesen war, wenn es um Andrew ging. Sie tranken zusammen ein Glas Sekt aus der Minibar und plauderten über Belanglosigkeiten, und dann schliefen sie miteinander, und Andrew sagte, Virginia rieche nach Erde und Gras und sei ihm noch nie zuvor so verführerisch erschienen. Sie selbst fühlte die Leichtigkeit, die sie stets in seinen Armen empfunden hatte, und diese berauschende Mischung aus Aufregung, Atemlosigkeit und dem Gefühl, jung zu sein. Leben. Andrew gab ihr ein Empfinden von Leben, das Michael in ihr nicht zu wecken vermochte.
    »Warum verlässt du ihn nicht?«, fragte Andrew hinterher, als sie nebeneinander lagen und Virginia gerade auf ihre Uhr geschaut und erschreckt

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