Das Echo der Schuld
Schlimmste. Das Schlimmste war …«
Er stand auf, machte ein paar Schritte, so als wolle er sich vergewissern, dass er nicht nur träumte oder sich die Situation nur einbildete.
»Michael ist an dem Trauma seiner Schuld zerbrochen«, sagte er, »und du hast ihn in dem Glauben gelassen, er habe Tommis Tod zu verantworten. Warum hast du das getan, Virginia? Warum?«
»Ich weiß es nicht. Ist das noch wichtig?«
»Es passt nicht zu dir. Du bist nicht … feige.«
»Vielleicht doch.«
Er blieb stehen, sah sie an. »Ich verstehe jetzt den Schatten über deinem Leben.«
»Er hat ein Foto gefunden«, sagte Virginia, »Nathan. Ein Foto von mir, als ich jung war. Er sagte, er könne es nicht in Einklang bringen. Die junge Virginia. Und die Frau, die er vor sich hatte. Er sagte, irgendetwas müsse geschehen sein. Er gab sich nicht zufrieden. Auch nicht mit dem Eingeständnis von Tommis Tod. Er wusste, dass da noch etwas war. Aber … ich kam nicht mehr dazu, ihm davon zu erzählen.«
»Du wirfst mir vor, nicht so hellseherisch veranlagt gewesen zu sein wie er? Dich nicht gefragt zu haben?«
»Nein. Ich werfe dir gar nichts vor. Wie käme ich dazu, gerade ich? Nach allem, was ich angerichtet habe. Ich habe so viel Leid über so viele Menschen gebracht.« Sie schloss kurz die Augen. »Ich wollte es Michael sagen. An jedem einzelnen Tag danach wollte ich es ihm sagen. Dass ich die Affäre mit Andrew gehabt hatte. Dass ich zu diesem idiotischen, unsinnigen Treffen mit ihm nach Huntingdon gefahren war. Dass ich danach offensichtlich vergessen hatte, den Wagen abzuschließen, in meiner Hast, noch vor ihm wieder daheim und im Haus zu sein. Dass Tommi allein meinetwegen hat sterben müssen. Ich schob es vor mir her. Ich glaube heute, es war nicht einmal so sehr deswegen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, es ihm zu sagen. Aber es auszusprechen hätte auch bedeutet, meinen eigenen Verfehlungen selbst ins Gesicht zu sehen. Es auszusprechen hätte bedeutet, dass es Wirklichkeit wird. Es hätte bedeutet, dass ich es nie wieder hätte verdrängen können. Und davor habe ich mich gefürchtet. So sehr gefürchtet, dass ich froh war, als Michael weg war. Und ich es ihm gar nicht mehr sagen konnte.«
Sie hatte sehr leise gesprochen am Ende, den Kopf tief gesenkt. Sie blickte ungläubig auf, als Frederic sagte: »Ich habe dich vorhin nach dem Warum gefragt. Aber jetzt glaube ich, dass es darauf gar keine Antwort gibt. Ich verstehe dich auch so.«
»Was?«
»Ich verstehe dich. Ich kann verstehen, dass du Michael nichts gesagt hast. Ich kann deine Qual verstehen. Deinen verzweifelten Versuch, das alles zu verdrängen. Ich kann es verstehen. Vielleicht hätte ich genauso gehandelt.«
In tiefster Überzeugung erwiderte Virginia: »Du nicht. Niemals. «
Er musste fast lächeln angesichts ihres Glaubens an seine Integrität. »Ich neige auch dazu, den Kopf in den Sand zu stecken, Virginia, das weißt du.«
Leise sagte sie: »Vielleicht neigen wir alle manchmal dazu.«
In einer fast zärtlichen Geste – wie sie in den letzten Tagen zwischen ihnen nicht mehr üblich gewesen war – strich er ihr über die Haare.
»Du wirst es in Ordnung bringen müssen«, sagte er, »wenn du deinen Frieden finden willst. Dich hinter dunklen Bäumen zu verstecken, um zu vergessen, und dich zwischendurch in die Arme der Nathan Moors dieser Welt zu stürzen, um dich selbst zu spüren – das wird auf Dauer nicht funktionieren. Ganz gleich, ob du mit mir zusammen bist oder mit irgendjemand anderem. Es wird nicht funktionieren.«
Sie nickte langsam.
Freitag, 8. September
1
Der Friedhof war schwarz von Menschen.
Rachel Cunningham muss sehr beliebt gewesen sein, dachte Janie. Sie fragte sich, ob wohl auch so viele Leute gekommen wären, wenn man sie beerdigt hätte. Ihre Schulklasse bestimmt. Und ihre Lehrer. Vielleicht auch ein paar Nachbarn.
Aber niemals so viele Menschen!
Sie und ihre Mutter standen ganz weit hinten, so dass Janie weder Rachels Eltern und ihre Schwester sah, noch mitbekam, was unmittelbar am Grab passierte. Sie war froh darum. Sie mochte den Sarg nicht sehen und schon gar nicht miterleben, wie er in die Erde gesenkt wurde.
Am Vorabend war Stella noch einmal bei ihnen in der Wohnung erschienen, hatte ihr ein Foto von einem Mann gezeigt und gefragt, ob das vielleicht der nette Herr aus dem Zeitschriftenladen sei. Janie hatte sofort verneint und den Eindruck gehabt, Stella schon wieder zu enttäuschen. Das erschien
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