Das Echo der Schuld
Superintendent«, sagte Mr. Quentin, den Janie insgeheim nur den Lord nannte.
Die Menschen strömten jetzt an ihnen vorbei durch das breite Friedhofstor auf die Straße. Janie versuchte, jedem Einzelnen ins Gesicht zu blicken, was angesichts der großen Menge nicht einfach war. Sie hätte ihn so gern gefunden, so gern. Weil Stella so nett war, aber auch weil sie Mummie so viel Kummer gemacht hatte in den letzten Wochen. Ihretwegen ging Mum nun schon den zweiten Tag nicht zur Arbeit und würde bestimmt Ärger bekommen. Es hätte sie erleichtert, etwas von all dem wieder gutmachen zu können.
Sie fing ein anerkennendes Lächeln von Stella auf. Die Beamtin hatte registriert, dass sie noch nicht abgeschaltet hatte, sondern sich weiterhin Mühe gab. Ihr Lächeln war ein Lob, das Janie sehr freute.
Die letzten Menschen verließen den Friedhof.
»So«, meinte Baker, »das war's dann.«
Die Gruppe wandte sich zum Gehen.
»Schöner Mist«, sagte die Dünne mit dem kurzen Rock, und Janie fragte sich, was genau sie wohl damit meinte. Die Tatsache, dass sie den fremden Mann nicht gesehen hatten? Oder den Umstand, dass überhaupt solche Dinge passierten – dass Kinder entführt und getötet wurden und man sich am Ende auf einem Friedhof wiederfand, wo alle weinten und man schreckliche, beklemmende Gefühle bekam?
Und warum muss ich ein Teil davon sein?, fragte sich Janie verzweifelt. Warum konnte mein Leben nicht ganz normal weitergehen?
Sie hatte das bedrohliche Gefühl, dass ihr Leben nun nie wieder ganz normal sein würde. Sie hätte nicht zu erklären gewusst, weshalb sie das glaubte, aber die Angst war einfach da. Und mehr als Angst: eigentlich eine Gewissheit. Es hing mit Rachel Cunninghams Sarg zusammen.
Sie hatte begriffen, wie dicht daran sie gewesen war, selbst in solch einem Sarg zu liegen.
Wann immer sie bisher Mummie nach dem Tod und dem Sterben gefragt hatte, war die Antwort gewesen: »Das hat noch lange Zeit! Erst wenn du ganz alt bist, musst du darüber nachdenken.«
Sie hatte das als sehr beruhigend empfunden. Etwas, das so weit weg war, fühlte sich nicht gefährlich an. Aber von jetzt an würde sie nie mehr denken können, dass der Tod in unüberschaubarer Ferne stand. Jetzt war er auf einmal ganz nah an sie herangekommen. Die anderen Kinder konnten weiterhin so tun, als gebe es den Tod gar nicht. Sie nicht.
Vielleicht bin ich jetzt gar kein richtiges Kind mehr, dachte sie, und ein seltsamer Schauer ging durch ihren Körper.
Sie standen jetzt draußen. Überall stiegen die Trauernden in ihre Autos. Es herrschte ein undurchdringliches Gewirr von Wagen, die sich langsam aus Parklücken herausschoben und in Richtung Straße rollten. Für den Moment entstand ein richtiges Verkehrschaos, aber anders als es gewöhnlich in solchen Situationen der Fall war, gab es niemanden, der lautstark seine Ungeduld gezeigt oder gar gehupt und geschimpft hätte. Weder quietschten Bremsen noch heulten Motoren. Alles war seltsam lautlos.
Weil es so traurig ist, dachte Janie, und das Gefühl der Trauer legte sich schwer und bleiern über sie.
»Ich darf mich dann verabschieden«, sagte Baker. Zuerst gab er Mrs. Quentin, der traurigen Frau mit den verweinten Augen, die Hand und fügte hinzu: »Ich melde mich nachher noch bei Ihnen.«
Mrs. Quentin nickte. Ihre Trostlosigkeit war herzzerreißend.
»Auf Wiedersehen«, sagte Doris mit jenem nervösen Klang in der Stimme, der Janie stets verriet, dass ihre Mutter dringend eine Zigarette brauchte. Sie würde eine aus ihrer Tasche kramen, kaum dass sie zehn Schritte vom Friedhofstor entfernt wären.
Jetzt lass uns gehen, bettelte sie stumm und wich hastig dem todtraurigen Blick Mrs. Quentins aus. Und da sah sie ihn.
Sie hatte überhaupt nicht mehr damit gerechnet und war so fassungslos, dass sie zunächst nicht fähig war, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Sie starrte nur und starrte und hatte dabei den Eindruck, dass ihr Gehirn nicht verarbeiten wollte, was ihre Augen erblickten.
Es war eine Täuschung. Es konnte nur eine Täuschung sein.
»Auf Wiedersehen, Janie«, sagte Baker.
Sie erwiderte nichts.
»Nun gib dem Superintendent schon die Hand«, mahnte Doris ungeduldig. Dann schien ihr etwas aufzufallen, denn sie fragte: »Was ist denn los? Kannst du nicht mehr reden und dich bewegen?«
»Da ist er«, flüsterte Janie. Sie hatte einen großen Ballen Watte im Mund, und ihr Hals war völlig ausgetrocknet. Es gelang ihr einfach nicht, lauter zu sprechen.
Außer ihrer
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