Das Echo der Schuld
dieses Abendessen in London …«
»Ich weiß«, sagte Nathan.
»Ich ging vorher in einen Schreibwarenladen. Genau in den, in dem Jack und die kleine Janie Brown verabredet waren. Ich erinnere mich, dass der Ladenbesitzer ein kleines Mädchen beschimpfte, weil es ewig die Einladungskarten anschaute, aber keine kaufte. Ich weiß noch, wie betroffen sie war, und dass sie mir leid tat. Das war Janie Brown.«
»Und Walker …«
»… hatte mich hineingehen sehen und umgehend das Weite gesucht. Sonst hätte er Janie an diesem Tag mitgenommen.«
»Meine Güte«, meinte Nathan, »das Kind hat wirklich eine ganz Horde von Schutzengeln!«
»Sie hat am Sonntag Geburtstag«, sagte Virginia, »und ich werde die Party für sie ausrichten. In Ferndale. Ihre ganze Schulklasse kommt. Du hättest erleben sollen, wie sehr sie sich gefreut hat.«
»Das ist sehr großzügig von dir.«
»Ich bin ihr von ganzem Herzen dankbar. Ohne sie hätten wir Kim nicht wiederbekommen.«
»Warum hat er Kim nicht getötet?«
»Das hat er nicht fertiggebracht. Er kannte sie zu gut, sie stand ihm zu nah. So schrecklich fehlgesteuert er auch war, er war trotzdem ein Mensch, der zu seelischen Bindungen fähig war, und zu Kim hatte er eine echte Beziehung. Als Grace ihn an jenem Tag anrief und bat, Kim von der Schule abzuholen, wehrte er sofort voller Entsetzen ab und behauptete, noch viel zu weit von King's Lynn entfernt zu sein. Er hatte Angst vor sich selbst. Aber dann konnte er doch nicht widerstehen und fuhr zur Schule. Natürlich stieg Kim sofort in sein Auto. Sie fuhren ein Stück, dann hielt er an. Er war verrückt vor Begierde und begann sie zu streicheln. Das war Kim unheimlich, sie wehrte ihn ab, wurde hysterisch. Jack war klar, dass sie uns, ihren Eltern, davon erzählen würde. Er konnte sie nicht mehr gehen lassen. Aber statt sie zu töten wie die anderen Mädchen, fuhr er sie hinaus zu diesem verlassenen Firmengelände, wo er vor ewigen Zeiten gearbeitet hatte. Er kannte sich dort aus. Er versteckte sie in einer Kiste, die er mit einem Bretterhaufen tarnte.«
»Was bald auch ihren Tod zur Folge gehabt hätte.«
»Ja. Aber er konnte es eben nicht eigenhändig tun.«
»Der Typ muss vollkommen irre sein«, sagte Nathan. »Wenn man sich überlegt, welcher Art von Sterben er Kim ausgesetzt hätte …«
Virginia schüttelte heftig den Kopf. »Ich darf darüber nicht nachdenken. Nicht eine Sekunde. Ich werde sonst verrückt! Wir haben solches Glück gehabt, Nathan. Sie weinte vor Durst, war völlig entkräftet und unter Schock, aber sie lebt. Sie erholt sich. Ich kann gar nicht genug beten und danken.«
»Grace Walker hatte keine Ahnung?«
»Offenbar wirklich nicht. Diese Geschichte hat sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Sie ist daran zerbrochen. Sie wird sich nie mehr erholen.«
Nathan nickte nachdenklich.
Dann, übergangslos, fragte er: »Und was wird aus uns?«
Noch wenige Minuten zuvor hätte Virginia diese Frage empörend gefunden. Nun empfand sie nur Traurigkeit. Und darauf zu antworten machte sie auf eine seltsame Art müde.
»Ich habe es dir vorhin schon gesagt«, erwiderte sie. »Uns gibt es nicht mehr so, wie es war.«
»Wegen meines Anrufs? Wegen dieses einen idiotischen Fehlers, der mir zutiefst leid tut, den ich, wenn es nur irgendwie ginge, sofort ungeschehen machen würde?«
Ja. Und nein. Sie fragte sich, ob sie ihm klarmachen konnte, was in ihr vorging.
»Es war ein Schock, herauszufinden, dass du dieser Anrufer warst«, sagte sie, »dass du meine – unsere – abgrundtiefe Angst und Verzweiflung zu deiner persönlichen Bereicherung nutzen wolltest. Aber was außerdem zählt, ist, dass ich dich irgendwie … in diesem Moment zum ersten Mal so gesehen habe, wie du wirklich bist. Es war, als ob ein Vorhang beiseite geschoben wurde, und da standest du als ein Mann, den ich bis dahin ganz anders wahrgenommen hatte – oder anders hatte wahrnehmen wollen.«
»Und dieser Mann gefiel dir nicht?«
»Ich empfand ihn als unberechenbar. Undurchsichtig. Da war auf einmal so vieles, was ich nicht miteinander in Einklang bringen konnte.«
»Du möchtest diesen Mann nicht kennenlernen? Vielleicht würde sich manches relativieren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte diesen Mann nicht kennen lernen.« Sie atmete tief. »Es ist vorbei, Nathan. Ich … kann nicht mehr. Es ist einfach vorbei.«
Die Worte dröhnten in dem Schweigen, das die Küche minutenlang ausfüllte.
Schließlich barg Virginia
Weitere Kostenlose Bücher