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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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ihrer Hilfe. Sie konnte einzelne Bretter abstützen, während er andere vorsichtig darunter hervorzog. Der Stapel lichtete sich.
    »Da steht irgendetwas«, sagte Stella.
    Sie holte sich ihre Lampe, richtete den Strahl auf den Gegenstand, der sich unter den Regalen verborgen gehalten hatte. »Eine Kiste!«, rief sie überrascht.
    Baker merkte, dass es in seinen Ohren zu summen begann. Das kratzende Geräusch. Eine Holzkiste unter einem Stapel zuammengefallener Regale. Sein Instinkt, der ihm geraten hatte, nicht aufzugeben.
    »Halt die Lampe«, sagte er. Mit einem raschen Blick vergewisserte er sich, dass ihm nichts auf den Kopf fallen konnte, dann kletterte er über die letzten herumliegenden Holzteile und beugte sich über die Kiste. Sie hatte kein Schloß. Aber der Deckel war schwer. Er brauchte seine ganze Kraft, ihn zu öffnen.
    Kim Quentin lag auf einem Stapel Decken. Sie hatte die Beine angewinkelt, weil sie sie nicht ausstrecken konnte. Das Licht blendete sie, sie schloss sofort die Augen. Sie lebte.
    Er hob den leichten, geschwächten Körper heraus. Er lag wie eine Feder in seinen Armen.
    »Mein Gott«, hörte er Stella mit leiser Stimme murmeln, »wie gut, dass wir …«
    Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
    »Kim«, sagte Superintendent Baker und strich mit einer Hand behutsam über die feuchten, verklebten Haare des Kindes. »Kim, es wird alles gut.«
    Kim schlug die Augen auf und sah ihn an. Ihr Blick war klar.
    »Ich habe so furchtbaren Durst«, sagte sie.
     

Dienstag, 12. September
     
    1
    Die Dunkelheit brach herein. Es war fast acht Uhr am Abend, und der Herbst näherte sich mit Riesenschritten. Wenn die Sonne unterging, wurde es sofort sehr kühl. In der Luft schwang ein würziger, etwas feuchter Geruch.
    Virginia stand in der geöffneten Küchentür, atmete die Frische, die aus dem Park strömte. Über ihr bewegten sich leise die Äste der großen Bäume. Sie blickte nach oben, hätte so gern den Himmel im vergehenden Licht des Tages gesehen, aber das dichte Laub ließ es nicht zu. Verwundert fragte sie sich, weshalb sie das bisher nie bedauert hatte.
    Sie fröstelte, ging zurück in die Küche, ließ aber die Tür offen. Sie begann den Tisch abzudecken, das Geschirr vom Abendessen in die Spülmaschine zu räumen. Kim zuliebe hatte sie aufwendig gekocht, obwohl sie selbst überhaupt keinen Hunger verspürt hatte, aber dann hatte auch Kim fast nichts angerührt, und nur Frederic hatte ein wenig gegessen. Im Grunde war fast alles übrig geblieben. Virginia seufzte leise. Kim war seit vier Tagen wieder bei ihrer Familie, aber es war schwierig, mit ihr ein Gespräch zu führen und sie zum Essen zu bewegen. Selbst an ihren Lieblingsgerichten pickte sie nur, legte dann stets die Gabel rasch zur Seite und sah ihre Mutter unglücklich an. »Ich kann nicht, Mum. Es tut mir leid. Es geht einfach nicht.«
    Für den morgigen Tag hatte Virginia einen Termin mit einem Psychotherapeuten vereinbart, der auf die Behandlung traumatisierter Kinder spezialisiert war. Es würde noch ein weiter Weg zu gehen sein, das wusste sie. Aber Kirn lebte und war wieder bei ihnen. Das allein zählte.
    Im Haus herrschte völlige Stille. Kim war, wie auch an den anderen Abenden seit ihrer Rettung, früh ins Bett gegangen, hatte sich mit ihrem Bären im Arm tief in die Kissen gekuschelt, wie ein kleines Tier, das Schutz in seiner Höhle sucht. Ihre Mutter hatte sie zugedeckt und ihr eine Geschichte vorgelesen und sie dann gefragt, ob sie noch eine Weile bei ihr sitzen sollte, aber Kim hatte den Kopf geschüttelt. »Ich bin so müde, Mum. Ich will schlafen.«
    Als Virginia zehn Minuten später nach ihr gesehen hatte, waren ihre Augen bereits geschlossen, und sie atmete tief und gleichmäßig.
    Frederic war um Viertel vor acht aufgebrochen, um die zutiefst geschockte, in Verzweiflung erstarrte Grace Walker zum Bahnhof zu bringen. Sie wollte zu ihrem Bruder nach Kent reisen, um dort irgendwie die Tragödie zu überstehen, die so unversehens über sie hereingebrochen war. Ihre Welt war in sich zusammengestürzt, als am vergangenen Freitag Polizeibeamte in ihr Haus eingedrungen, das Unterste zuoberst gekehrt und Jacks Computer beschlagnahmt hatten. Als sie von den Verbrechen ihres Mannes und seinen jahrzehntelang vor ihr geheim gehaltenen sexuellen Vorlieben erfahren hatte, war sie innerhalb weniger Stunden zu einem gebrochenen Menschen geworden. Frederic, der sicher war, dass sie wirklich von allem nichts gewusst hatte, hatte ihr

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