Das Echo der Schuld
sie gemeinsam mit ihrer Tochter auf irgendeiner Parkbank verzehren. Rachel liebte es, ein Elternteil für sich allein zu haben und irgendetwas zu unternehmen, auch wenn es nur ein kurzer Mittagsausflug in den Park war. Wann immer sie konnte, versuchte Claire, etwas in dieser Art zu tun und ihrer Erstgeborenen ein wenig ausschließliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Über der Arbeit merkte sie kaum, wie die Zeit verging. Schließlich tippte sie das letzte Wort in den Computer und lehnte sich seufzend zurück. Sie musste noch einmal alles durchgehen, dann konnte sie den Text gleich in die Redaktion mailen. Erstaunlich, dass sie alles in der recht kurzen Zeit geschafft hatte.
Sie schaute auf die Uhr und stieß einen Laut des Erstaunens aus: Es war ein Uhr! Und Rachel war noch nicht daheim.
Sie trödelte für gewöhnlich nicht herum. Und wenn sie nach dem Kindergottesdienst noch etwas bei Julia blieb, was gelegentlich vorkam, rief Julias Mutter an.
Sollte man das heute vergessen haben?
Claire, auf einmal von starker Unruhe gepackt, lief ins Wohnzimmer hinunter, wo das Telefon stand, und wählte Julias Nummer. Zu ihrer Erleichterung meldete sich Julias Mutter fast sofort.
»Hallo«, sagte Claire, »hier ist Claire Cunningham. Ich wollte mich nur vergewissern, dass Rachel bei Ihnen ist. Sie soll doch bitte gleich …«
»Aber Rachel ist nicht hier«, unterbrach Julias Mutter.
Claire schluckte trocken. »Nein? Und Julia?«
»Julia war heute überhaupt nicht im Kindergottesdienst. Sie klagt über Halsschmerzen.«
»Es ist … es ist nur … Rachel ist noch nicht zu Hause. Es ist ein Uhr! Ob sie noch mit einem der anderen Kinder zusammen ist?«
»Es ist so schönes Wetter«, meinte Julias Mutter beruhigend, »vielleicht hat irgendeine der abholenden Mütter den Kindern ein Eis spendiert. Und die sitzen jetzt zufrieden in der Sonne und vergessen ganz, dass daheim jemand wartet.«
»Das könnte sein.« Aber sie glaubte es nicht. Rachel war sehr zuverlässig. Sie kam praktisch nie zu spät. Oder wollte sie wieder provozieren? Aber sie war so guter Dinge gewesen, als sie fortging!
»Ich werde mal zur Kirche gehen und nachsehen«, sagte sie. Sie fand, dass ihre Stimme ganz verändert klang. Sie legte den Hörer auf, ohne sich zu verabschieden. Sie hatte Angst. Furchtbare Angst. Sie konnte spüren, wie ihr Herz raste.
Sie nahm nichts mit als den Haustürschlüssel und rannte auf die Straße hinaus. Weit und breit keine Spur von Rachel.
Im Laufschritt legte sie den Weg zur Kirche zurück. In dem angrenzenden Gemeindehaus fand immer der Kindergottesdienst statt. Als sie dort jedoch ankam, war die Tür schon fest verschlossen, und ringsum war niemand zu sehen, weder Kinder noch Eltern. Der reguläre Gottesdienst war seit eineinhalb Stunden vorüber. Der gepflasterte Platz vor der Kirche lag still und ausgestorben in der heißen Mittagssonne.
»Das kann doch nicht wahr sein«, flüsterte sie, »lieber Gott, bitte lass sie mich schnell finden. Ganz schnell!«
Sie überlegte, wie der Mann hieß, der die Veranstaltung für die Kinder leitete. Rachels großer Schwarm. Don natürlich, aber wie mit Nachnamen? Hatte Rachel seinen Nachnamen überhaupt je erwähnt?
Bleib ruhig, Claire, ermahnte sie sich und versuchte, tief durchzuatmen, bleib jetzt ruhig und denke nach. Du musst die Nerven behalten.
Es war wichtig, dass sie mit Don sprach. Wenn jetzt jemand Auskunft geben konnte, dann er. Vielleicht wusste Julias Mutter, wie er hieß und wie man ihn erreichen konnte.
Fünf Minuten später stand sie vor Julias Elternhaus. Sie war gerannt, aber sie merkte kaum, dass sie am ganzen Körper in Schweiß gebadet war. Ihr Atem ging keuchend.
Julias Mutter öffnete und erkannte sofort, dass Claire ihre Tochter offensichtlich nicht gefunden hatte.
»Kommen Sie herein«, sagte sie, »an der Kirche war keine Spur?«
»Nichts. Da ist kein Mensch mehr.«
»Nun machen Sie sich nicht allzu viele Gedanken«, sagte Julias Mutter, »bestimmt gibt es eine ganz vernünftige Erklärung. Sie werden schon sehen.«
»Ich möchte den Lehrer anrufen«, erwiderte Claire. »Don. Wissen Sie, wie er heißt? Oder haben Sie eine Telefonnummer?«
»Donald Asher. Und die Nummer habe ich auch. Kommen Sie, rufen Sie gleich von uns aus an.«
Zwei Minuten später hatte Claire Donald Asher am Apparat. Was sie erfuhr, ließ ihre Knie weich werden und jagte ihr ein Schwindelgefühl durch den Körper, dass sie einen Moment lang meinte, ohnmächtig zu
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