Das Echo der Schuld
Boden zu fallen.
»Rachel war heute gar nicht da«, sagte er, »und ihre Freundin Julia auch nicht. Aber es fehlten etliche Kinder. Bei dem schönen Wetter fand ich das nicht ungewöhnlich und dachte mir nichts weiter.«
»Sie war nicht da?«, flüsterte Claire. »Aber sie ist pünktlich daheim weggegangen.«
Es war deutlich, dass diese Information Donald nun auch bestürzte, aber er versuchte, die verzweifelte Mutter zu beruhigen. »Vielleicht hatten sie und Julia einfach keine Lust und sind stattdessen …«
»Julia liegt mit Halsschmerzen im Bett«, unterbrach ihn Claire. »Sie und Rachel waren heute überhaupt nicht zusammen. Sie treffen sich ja auch meist erst bei Ihnen, weil Julia für gewöhnlich vorher mit ihren Eltern in die Kirche geht.«
»Jetzt denken Sie nicht gleich das Schlimmste«, meinte Donald, »Kinder machen sich oft keine Vorstellung davon, in wie viel Angst und Schrecken sie uns versetzen. Vielleicht ist sie in einem Park, träumt vor sich hin und vergisst völlig die Zeit.«
Das passte nicht. Claire kannte ihre Tochter besser. Rachel saß nicht einfach in einem Park und träumte. Hätte sie aus irgendeinem Grund plötzlich beschlossen, heute nicht in die Sonntagsstunde zu gehen, dann wäre sie nach Hause gekommen. Hätte im Garten gespielt oder ihre Mutter so lange genervt, bis sie hätte fernsehen dürfen.
Sie legte den Hörer auf, ohne sich von Donald zu verabschieden, und wandte sich wieder an Julias Mutter. »Darf ich bitte rasch meinen Mann anrufen? Er ist mit Sue am Strand, und …«
»Selbstverständlich.« Julias Mutter war inzwischen ebenfalls blass bis in die Lippen. Im Hintergrund tauchten leise ihr Mann und eine erschrockene Julia auf, die trotz der Hitze einen dicken Schal um den Hals trug. »Rufen Sie an, wen immer Sie brauchen.«
Sie erreichte Robert auf seinem Handy. Im Hintergrund konnte sie das Reden und Lachen der vielen anderen Menschen am Strand hören, dazu Sues Gequengel.
»Robert, bitte, komm sofort heim. Rachel ist verschwunden. «
»Verschwunden? Was heißt das?«
»Verschwunden heißt verschwunden! Sie ist nicht da!« Trotz ihrer heftigen Bemühung, die Beherrschung zu wahren, brach Claire in Tränen aus. »Bitte komm sofort! Bitte!«
Er sagte noch irgendetwas, aber das hörte sie schon nicht mehr. Der Hörer entglitt ihren zitternden Fingern. Julias Mutter stützte sie, half ihr in einen Sessel. Lautlos krümmte sie sich zusammen, spürte dann, wie ihr jemand – es war Julias Vater – ein Glas mit Schnaps an die Lippen hielt. Das scharfe Brennen auf ihrer Zunge ließ ihre Lebensgeister zurückkehren. Aber sie saß wie erstarrt, hielt den Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet.
Sie war zu Tode erschöpft, leer und kalt. Für den Moment vermochte sie sich nicht zu bewegen.
2
Nathan Moor tauchte am Sonntag erst um halb zwei Uhr mittags in der Küche auf. Virginia saß dort am Tisch, löffelte einen Joghurt und blätterte in einem Magazin. Sie hatte drei Stunden zuvor mit Frederic telefoniert, der von einem Dinner am Vorabend erzählt hatte und von den wichtigen Leuten, die er dort getroffen hatte.
»Und wie war dein Samstag?«, hatte er dann gefragt.
Sie hatte mit leichter Stimme geantwortet: »Ruhig. Kim ist bei einer Übernachtungsparty. Ich war endlich mal ganz allein. Ich fand das schön.«
Er hatte gelacht. »Ich kenne niemanden, der so gerne allein ist wie du!«
Es war von vorneherein klar gewesen, dass sie ihm nichts von Nathan Moors Auftauchen berichten würde. Es hätte Streit bedeutet, und Frederic hätte darauf verwiesen, dass er genau diese Entwicklung prophezeit hatte. Und wenn er gar erfahren hätte, dass Nathan sogar schon im Gästezimmer schlief … Virginia hatte nicht die geringste Lust auf eine Auseinandersetzung. Sie sagte sich, dass sie letztlich Frederics Nerven schonte, wenn sie schwieg. Bis er am kommenden Mittwoch zurückkäme, wäre Nathan Moor längst fort, und er brauchte nie etwas von dessen Besuch zu erfahren.
»Guten Morgen«, sagte Nathan, und sie musste lachen.
»Es ist halb zwei! Sie haben ewig geschlafen!«
»O Gott. Schon halb zwei?« Er warf einen Blick auf die Küchenuhr. »Tatsächlich. Ich glaube, das liegt an der Reise mit Livia hierher. Die hat mich so geschwächt. Ich war todmüde.«
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Gern.« Er setzte sich an den Tisch und sah zu, wie sie Kaffeepulver in den Filter löffelte und die Maschine anschaltete. Am Vorabend war es genauso gewesen. Sie hatte
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