Das Echo der Schuld
mit ihren Eltern in die Kirche ging, hatte sie anderthalb Jahre zuvor überredet, einmal mitzukommen, und Rachel hatte großen Gefallen an den Geschichten gefunden, die dort erzählt wurden, und am gemeinsamen Singen und Beten. Und natürlich an Don. Sie hatte ihre Eltern bestürmt, von nun an regelmäßig dort hingehen zu dürfen, und Claire und Robert Cunningham hatten erfreut zugestimmt – der Kindergottesdienst erschien ihnen als eine gesunde Alternative zu einem gelangweilt vertrödelten Sonntagmorgen, an dem Rachel unvermeidlich irgendwann nach dem Fernseher zu quengeln begann.
Bis zum Beginn der diesjährigen Schulferien hatten entweder Claire oder Robert ihre Tochter zur Kirche gebracht, aber in diesem Sommer hatte sie durchgesetzt, allein gehen zu dürfen. Schließlich war sie schon acht Jahre alt. Claire Cunningham war über die neue Selbstständigkeit ihrer Tochter nicht allzu glücklich gewesen, aber Robert hatte ihr erklärt, dass gewisse Abnabelungsprozesse wichtig für Kinder seien und nicht unterbunden werden sollten.
Am heutigen Sonntag war es noch einmal sehr heiß geworden, und Robert hatte gesagt, er wolle mit Rachels kleiner Schwester Sue ans Meer fahren.
»Möchtest du nicht mitkommen, Rachel? Das ist wahrscheinlich die letzte Gelegenheit in diesem Jahr, um im Meer zu baden!«
Rachel hatte jedoch nachdrücklich den Kopf geschüttelt. Claire registrierte es etwas bekümmert. Seitdem Sue auf der Welt war, weigerte sich Rachel häufig, an gemeinsamen Familienunternehmungen teilzunehmen. Vom ersten Augenblick an war sie mit ihrer kleinen Schwester nicht zurechtgekommen. Sie war eifersüchtig auf die Zuwendung, die das kleine Mädchen von den Eltern bekam, traurig darüber, etwas teilen zu müssen, was ihr bislang allein gehört hatte. Manchmal zog sie sich ganz in sich selbst zurück, manchmal versuchte sie, die Aufmerksamkeit ihrer Eltern durch schlechtes oder widerspenstiges Benehmen auf sich zu ziehen. So wie an diesem Morgen. Noch im Schlafanzug und mit bloßen Füßen war sie die Treppe heruntergekommen, obwohl Claire ihr hundert Mal gesagt hatte, sie solle Hausschuhe anziehen, bevor sie über die kalten Steinplatten in Flur und Küche lief. Natürlich gab es wieder einen Disput deswegen, und Claire hatte fast den Eindruck, als habe Rachel diesen ganz bewusst und nicht aus reiner Nachlässigkeit provoziert.
Nachdem Robert mit Sue das Haus in Richtung Strand verlassen hatte, machte sich eine wieder recht gut gelaunte Rachel auf den Weg zum Kindergottesdienst.
»Du strahlst ja so«, stellte Claire fest.
Rachel nickte. »Heute kommt …« Sie biss sich auf die Lippen.
»Wer kommt heute?«, fragte Claire zerstreut. In Gedanken war sie bereits bei der Arbeit, die sie erwartete, wenn die ganze Familie verschwunden war.
»Ach, so ein Pfarrer«, sagte Rachel rasch. »Ein Pfarrer aus London kommt und zeigt uns Dias über Indien!« Sie gab ihrer Mutter einen Kuss. »Bis später, Mummie!«
Claire atmete tief durch. Manchmal genoss sie das Alleinsein zutiefst. Sie arbeitete freiberuflich als Journalistin und musste am heutigen Sonntag eine Theaterkritik über ein Stück schreiben, das sie sich am Vorabend im Auftrag der Lynn News angesehen hatte. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und war entschlossen, die in diesem Haus so selten herrschende völlige Ruhe bis zur letzten Minute auszunutzen.
Sie kam gut voran. Das Telefon läutete kein einziges Mal, im Zimmer war es trotz der draußen rasch ansteigenden Temperatur angenehm kühl, und über der Straße und den Gärten von Gaywood, einem typischen Familienwohnviertel in King's Lynn, lag sonntägliche Stille. Nur ein paar Vögel zwitscherten, ein paarmal bellte ein Hund. Es war die perfekte Arbeitsatmosphäre.
Claire hatte das Stück gut gefallen, daher machte es ihr Spaß, darüber zu schreiben. Sie wusste, dass sie etwa anderthalb Stunden hatte: Um kurz nach elf war Rachel fortgegangen, etwa um Viertel vor eins würde sie zurück sein. Nach dem Gottesdienst war sie stets sehr ausgeglichen – was an ihrer Zuneigung für den sagenhaften Don lag – und sprudelte über vor Mitteilungsbedürfnis. Claire hätte es nicht fertig gebracht, sie dann mit dem Hinweis, keine Zeit zu haben, abzuweisen. Sie würde sich alles, was Don gesagt und getan hatte, haarklein anhören müssen. Danach wollte sie mit Rachel rasch die Hauptstraße hinunter zu dem Fish-&-Chips-Stand fahren, der auch sonntags seine Ware anbot, für jeden eine große Portion kaufen und
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