Das Echo der Schuld
gefunden? Und weshalb …«
Er erriet, was sie hatte fragen wollen. »Weshalb wir hierher gekommen sind? Virginia, ich hoffe, Sie fangen nicht an, sich von uns verfolgt zu fühlen. Die schlichte Wahrheit ist, dass für eine Reise nach Deutschland das Geld nicht gereicht hätte. Sie waren ja so nett, uns etwas zu leihen …«
Frederic hatte die Stirn gerunzelt, jedoch nichts mehr dazu gesagt.
»… und ich konnte damit gerade noch die Bahnfahrt bis hierher bezahlen. Es war eine schreckliche Reise mit dieser schwachen, vollkommen willenlosen Frau … Ein netter Tourist hat uns mit dem Auto bis Fort William mitgenommen, aber von da an waren wir auf uns allein gestellt. Wir mussten in Glasgow umsteigen und dabei auch noch von einem Bahnhof zum anderen gelangen, dann ging es weiter nach Stevenage, einem Ort, von dem ich im Leben vorher noch nichts gehört hatte. Dort haben wir die halbe Nacht auf den Anschluss nach King's Lynn gewartet. Freitag früh kamen wir hier an. Ich habe die letzte Nacht in einer wirklich schaurigen Unterkunft nahe dem Krankenhaus geschlafen, aber damit waren meine finanziellen Reserven endgültig aufgebraucht. Ich habe nichts mehr. Absolut nichts mehr.«
»Wie … ?«
»Richtig. In einer der Schubladen dort in Ihrem Ferienhaus lag ein an Sie gerichtetes Schreiben, auf dem diese Adresse hier stand. Sie haben den Umschlag wohl irgendwann einmal mitgenommen. Und da dachte ich …«
Sie merkte, dass sie leises Kopfweh bekam. Was vor allem mit Frederic zusammenhing.
Wie sie schon auf Skye bemerkt hatte, verfügte Nathan über eine feine Intuition.
»Ihr Mann wird nicht begeistert sein, mich hier anzutreffen, nicht wahr?«, fragte er.
»Er ist in London. Aber er kommt nächste Woche zurück.«
»Er mag uns nicht«, sagte Nathan, »er misstraut uns. Und das kann ich ihm auch nicht verdenken. Er muss glauben, wir sind eine richtige Landplage. Jetzt kreuzen wir auch hier noch auf … Virginia, das Schlimme ist, ich habe keine Wahl. Sonst wäre ich nie auf die Idee gekommen, Sie zu belästigen. Aber ich … wir stehen vor dem Nichts. Buchstäblich. Ich habe keinen einzigen Cent mehr in meiner Tasche. Dieses Wasser hier«, er deutete auf das Glas, das vor ihm stand, »ist das Erste, was ich heute zu mir nehme. Die Nacht werde ich vermutlich auf einer Parkbank zubringen müssen. Keine Ahnung, was werden soll. Und Sie sind der einzige Mensch, den ich in diesem Land kenne.«
Ihr fiel etwas ein, das Frederic gesagt hatte, als sie auf der Rückfahrt von Skye waren und es noch einmal zu einer Diskussion wegen der beiden Deutschen gekommen war.
»Die könnten sich jederzeit an die deutsche Botschaft in London wenden«, hatte er erwidert, als Virginia ihm die verzweifelte Lage der beiden vorhielt. »Die helfen in solchen Fällen. Die organisieren auch die Rückreise und alles, was sonst zu tun ist. Es gibt überhaupt keinen Grund, weshalb die sich an uns festbeißen müssen!«
Jetzt wäre der Moment gewesen, genau dies Nathan Moor nahe zu legen. Ihn an die zuständige Stelle zu verweisen, ihm noch ein paar Pfund als Überbrückung in die Hand zu drücken und ihm dann freundlich klar zu machen, dass sich die Familie Quentin nicht länger verantwortlich fühlte.
Sie wusste später nie zu sagen, warum sie das nicht getan hatte. Manchmal überlegte sie, ob es an ihrem inneren Alleinsein gelegen hatte. Und an der Art, wie Nathan sie anschaute. Sein Blick zeigte keine Neugier. Sondern ein warmes, intensives Interesse.
»Also, so warm sind die Nächte nicht mehr, dass Sie sie auf einer Parkbank zubringen sollten«, sagte sie stattdessen in einem munteren Ton, der ihre Beklommenheit verbergen sollte. »Ich darf Ihnen unser Gästezimmer anbieten? Und jetzt werde ich ein Abendessen machen, damit Sie nicht auch noch halb verhungert im Krankenhaus landen wie Ihre Frau.«
»Ich helfe Ihnen«, sagte er und erhob sich.
Als sie, von ihm gefolgt, in die Küche trat, hatte sie noch immer das mulmige Gefühl, dass sie dabei war, sich in ein Problem zu verstricken, dessen Eigendynamik sie vielleicht irgendwann nicht mehr würde aufhalten können.
Seltsamerweise aber trauerte sie nicht mehr im Geringsten ihrem einsamen Samstagabend hinterher.
Sonntag, 27. August
1
Rachel Cunningham hatte die Entscheidung, an jedem Sonntag von halb zwölf bis halb eins in den Kindergottesdienst zu gehen, ganz allein getroffen. Niemand in ihrer Familie war besonders religiös. Ihre beste Freundin Julia, die regelmäßig
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