Das Echo der Schuld
mich gebeten, ihn zu einer für ihn wichtigen Dinnerparty zu begleiten. Daraufhin bekam ich migräneartige Kopfschmerzen und sah innerhalb weniger Minuten aus wie eine Schwerkranke.
Wären das die Worte, mit denen sie einem Psychotherapeuten ihr Problem schildern würde?
War sie reif für eine Therapie?
Sie schluckte zwei Pillen, taumelte dann ins Wohnzimmer und streckte sich auf dem Sofa aus. Es wäre besser gewesen, ins Schlafzimmer zu gehen, sich in ihr Bett zu legen und die Fensterläden zu schließen, aber sie tat es nicht, weil Nathan Moor dann, wenn er zurückkehrte, unweigerlich sofort erkennen würde, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Er blickte ohnehin schon viel zu tief in sie hinein, sprach Dinge an, über die sie nicht reden wollte. Nicht auszudenken, wenn er sie so am Boden zerstört vorfand.
Sie merkte allerdings bald, dass es ihr kaum gelingen würde, ihm vorzuspielen, alles sei in Ordnung. Die Schmerzen tobten in ihrem Kopf, schienen eher schlimmer als besser zu werden. Sie hatte das Medikament entweder zu spät genommen oder sich einfach schon zu sehr daran gewöhnt, es half jedenfalls nicht mehr richtig. Außerdem wuchs mit jeder Minute ihre Verzweiflung, das Gefühl, auf schreckliche Art zu versagen, ein Mensch ohne echten Wert zu sein.
Was machst du schon den ganzen Tag? Du ziehst unsere Tochter groß und gehst joggen!
Er hatte noch nie so böse und verletzend mit ihr gesprochen. Ihr noch nie so gnadenlos einen Spiegel vorgehalten, in dem sie ein derart vernichtendes Bild von sich selbst erkennen musste. Sie hatte keinen Beruf, keine Karriere, nicht einmal ein groß angelegtes Wohltätigkeitsprojekt, in das sie Zeit und Kraft hätte investieren können. Sie saß in diesem riesigen Haus, kümmerte sich um ein Kind, das sie – wer hatte ihr das eben noch gesagt? Nathan Moor? – in absehbarer Zeit nicht mehr rund um die Uhr brauchen würde. Sie trabte ihre Runden durch den Park, und wenn eine andere Mutter sie zum Tee einlud, entzog sie sich mit der Begründung, wichtige Verpflichtungen zu haben. Sie weigerte sich, die Karriere ihres Mannes zu unterstützen, lehnte kleinste Gefälligkeiten, um die er sie bat, rundheraus ab. Das Einzige, was sie in der letzten Zeit in Bewegung gesetzt hatte, war die Unterstützung der deutschen Schiffbrüchigen oben auf Skye, und wie es schien, hatte sie auch damit wieder einen Fehler gemacht. Nathan Moor wurde sie nun nicht mehr los, genau wie Frederic gesagt hatte, und dabei hatte sie ihm noch Kaltherzigkeit vorgeworfen, als er sie warnte. Inzwischen wohnte Moor schon bei ihr im Haus und gondelte in ihrem Auto durch die Gegend. Es war offensichtlich: Wenn sie einmal etwas unternahm, sich einmal aus ihrem Mauseloch hervorwagte, ging es schief.
Irgendwann kamen die Tränen. Sie wusste, dass es fatal war zu weinen, wenn man Kopfschmerzen hatte, aber es gelang ihr nicht, noch länger dagegen anzukämpfen. Der Schmerz ergoss sich in heftigem Schluchzen über die Kissen, auf denen sie lag. Sie hatte sehr lange nicht mehr geweint, es musste Jahre zurückliegen, und sie konnte sich nicht an den Anlass erinnern. Es hatte in ihrem Leben mit Frederic nie einen Grund für Tränen gegeben. Alles war so überschaubar und friedlich, ein Tag glich dem anderen, frei von Ängsten und Sorgen. Sie hatten nie Streit, und Frederic übte nie Druck auf sie aus. Bis jetzt. Auf einmal kam er mit Forderungen. Verletzte sie, als er ihren Widerstand spürte. Verursachte ihr Kopfschmerzen und Schuldgefühle. Und das alles nur wenige Stunden nachdem Nathan Moor sie mit seinen Fragen attackiert und buchstäblich aus dem Haus getrieben hatte. Wenige Stunden nachdem sie auf irgendeiner gottverlassenen Straße in einem der sozial schwachen Viertel von King's Lynn gestanden und Zigaretten geraucht hatte.
Was, um alles in der Welt, geschah plötzlich mit ihr?
Sie wusste nicht, wie lange sie so gelegen und geweint hatte, aber plötzlich vernahm sie draußen den Motor ihres heimkehrenden Wagens. Nathan Moor kam zurück. Sie setzte sich rasch auf, unterdrückte dabei einen Schmerzenslaut: In ihrem Kopf schienen überall lange Nadeln zu stecken, die sich in ihr Gehirn bohrten. Mit den Händen versuchte sie, ihre Haare ein wenig zu ordnen, aber es war klar, dass sie nicht würde verbergen können, wie schlecht es ihr ging. Sie musste fürchterlich aussehen.
Er kam durch die Küche herein – es war typisch für ihn, nun nicht mehr höflich an der Haustür anzuklopfen, sondern sich zu
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