Das Echo der Schuld
bleiben. Sie übernachtet jetzt noch einmal dort. Ich habe mit der Mutter noch einen Tee getrunken.« Sie wollte seinen Eindruck, sie sei eine völlig zurückgezogen lebende, einsame Frau, zerstreuen. Er sollte sehen, dass sie ganz normale Dinge tat. Zugleich fragte sie sich, weshalb ihr überhaupt etwas an seiner Meinung lag.
Es hatte den Anschein, dass er ihr nicht glaubte – was sie verunsicherte –, aber das mochte Einbildung sein.
»Ich würde gerne Livia im Krankenhaus besuchen«, sagte er, »würden Sie mir Ihren Wagen leihen? Als ich hierher kam, bin ich zu Fuß gegangen, aber ich muss zugeben, das schaffe ich nicht jeden Tag.«
Sie reichte ihm ihren Autoschlüssel, wissend, dass Frederic sich erneut die Haare raufen würde. Als ahnte er, was sie dachte, sagte Nathan: »Ihr Mann hat übrigens angerufen.«
»Frederic?« Sie bekam einen Riesenschreck. Frederic rief an und hatte Nathan Moor am Apparat! Genau das hatte sie vermeiden wollen. »Sie haben mit Frederic gesprochen?«
Er hob abwehrend beide Hände und grinste. »Wo denken Sie hin! Nein! Ich gehe doch nicht an fremde Telefone. Der Anrufbeantworter lief, und man konnte mithören. Frederic sagte jedoch nicht viel, er bat eigentlich nur um Rückruf.«
Ihr fielen jede Menge Steine vom Herzen. »Gut. Dann rufe ich ihn gleich zurück.«
»Oder möchten Sie mich zu Livia begleiten?«
»Nein.« Es wäre durchaus sinnvoll gewesen, dies zu tun, zumal sie unerwarteten Freiraum durch Kims Abwesenheit hatte, aber sie mochte die Vorstellung nicht, mit ihm im Auto zu sitzen. Sie mochte überhaupt keine Nähe zu ihm.
»Okay. Dann bis später!« Er wandte sich zum Gehen. Er sah sehr lässig aus in seinen fleckigen Jeans, ein ebenfalls nicht ganz sauberes weißes T-Shirt darüber. Nicht gerade korrekt gekleidet für einen Krankenhausbesuch. Was ihm, wie ihn Virginia einschätzte, egal war. Oder, dachte sie plötzlich, er will vielleicht gar nicht ins Krankenhaus. Er fährt ein bisschen in der Gegend herum und geht einen trinken.
Seltsamerweise hatte sie keinen Moment lang die Befürchtung, er könne mit dem Auto verschwinden. Sie empfand ihn als durchaus zwielichtig, hielt einen Diebstahl jedoch für ausgeschlossen.
Er war schon fast um die Ecke der Terrasse verschwunden, als sie ihn noch einmal rief. »Nathan!«
»Ja?« Er blieb stehen, wandte sich um.
Sie hatte ihn bitten wollen, darauf zu achten, dass ihn die Walkers nicht sahen, aber plötzlich kam sie sich allzu albern vor. Welches Gewicht verlieh sie ihm damit! Und sie selbst wurde dabei zum Schulmädchen, das fürchtet, bei einer verbotenen Tat erwischt zu werden. Sie hatte nichts zu verbergen, es war nichts geschehen, was Frederic nicht hätte wissen dürfen. Die Walkers konnten ruhig mitbekommen, dass sie Besuch hatte.
Und doch hoffte sie aus tiefster Seele, ihnen würde nichts auffallen.
»Ach, nichts«, sagte sie, »hat sich schon erledigt.«
Er lächelte und verschwand. Kurz darauf hörte sie, wie der Motor ihres Wagens gestartet wurde.
Sofort atmete sie leichter. Sie würde jetzt erst einmal duschen. Dann Frederic anrufen. Dann ein Glas Wein trinken. Sie musste verhindern, dass quälende Gedanken sich in ihr breitzumachen begannen.
3
Sie erreichte Frederic sofort, und zu ihrer Erleichterung musste sie weder lügen noch bestimmte Dinge verschweigen, denn er fragte mit keinem Wort nach ihrem bisherigen Tagesablauf. Stattdessen hatte er Neuigkeiten vorzubringen, und die sprudelte er auch gleich hervor.
»Virginia, Liebste, bist du mir böse, wenn ich ein paar Tage länger in London bleibe? Ich habe einige äußerst wichtige Leute kennen gelernt, die sehr viel Interesse an mir zeigen. Ich müsste an zwei Abendessen teilnehmen, und …«
Sie war wie immer: verständnisvoll und zu allen Zugeständnissen bereit. Und ebenfalls wie immer fiel es ihr auch nicht schwer.
»Natürlich bleibst du länger. Das ist gar kein Problem. Ich komme hier gut zurecht.«
»Ja, dann würde es bis Freitag dauern …« Er zögerte.
»Ja?« Sie hatte das Gefühl, dass er noch etwas sagen wollte. Und dass er sich damit aus irgendwelchen Gründen schwertat.
»Also, die zwei Abendessen sind am Dienstag und am Mittwoch. Am Freitag findet eine Dinnerparty statt bei Sir James Woodward.«
Der Name sagte ihr nichts. Aber alle Alarmsignale in ihr leuchteten auf.
»Sir Woodward sitzt im Unterhaus. Er ist einer der einflussreichsten Männer dort«, erläuterte Frederic. »Bei ihm zu einer Dinnerparty eingeladen
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