Das Echo der Schuld
in die Küche hinüber und erreichte im letzten Moment das Spülbecken.
Er war ihr nachgekommen. Er hielt ihren Kopf und strich wieder und wieder ihre Haare zurück, damit sie nicht schmutzig würden, während sie sich erbrach, als könne sie nie wieder damit aufhören.
Als der Brechreiz endlich versiegte und sie sich aufrichtete, mit zitternden Beinen und so schwach, dass sie kaum wusste, wie sie es von der Spüle bis zu einem der Stühle um den Küchentisch schaffen sollte, wusste sie, dass sie ihm von Michael erzählen würde.
4
Michael
Als sie sieben gewesen waren, hatten sie sich geschworen, einander zu heiraten. Etwas anderes wäre gar nicht in Frage gekommen, denn sie liebten einander so sehr, dass es unvorstellbar schien, je einen anderen zu lieben.
Mit zwölf Jahren erneuerten sie ihren Schwur, ernster und feierlicher als zuvor, denn inzwischen hatte man ihnen erklärt, dass Cousin und Cousine einander nicht heiraten sollten, und nun witterten sie, dass man ihnen Steine in den Weg legen würde, was die ganze Angelegenheit noch viel romantischer und abenteuerlicher machte. Die sogenannte gute Gesellschaft würde sie nie akzeptieren, und vielleicht würden sie auch von ihren Familien verstoßen werden, und Menschen, die sie heute grüßten, würden die Straßenseite wechseln, wenn sie ihnen begegneten. Sie konnten damit Stunden verbringen, sich ihr Leben als Ausgestoßene auszumalen, in den schaurigsten und schrecklichsten Farben, und manchmal lief ihnen dabei ein wohliges Kribbeln nach dem anderen über den Körper. Denn das Schöne bei all dem war ja die sichere Gewissheit, dass sie trotz allem niemals allein sein würden. Sie hatten einander, für immer und ewig. Sie waren eine Insel inmitten eines feindlichen Meeres.
Was konnte ihnen geschehen?
Sie waren im selben Jahr, im Abstand von wenigen Monaten, geboren worden. Virginia Delaney kam am dritten Februar zur Welt, Michael Clark am achten Juli. Ihre Mütter waren Schwestern, eng miteinander verbunden, und ihre Lebensplanung hatte immer beinhaltet, dass sie möglichst nie wirklich voneinander getrennt sein würden. Es war ihnen geglückt, mit ihren Ehemännern in zwei nebeneinander liegenden Häusern in London einzuziehen, und nun hatten sie es auch noch geschafft, ihre Kinder altersmäßig dicht beieinander zu platzieren. Sie hatten gehofft, dass Michael und Virginia wie Geschwister aufwachsen würden, und dazu gehörte auch, dass sie geschwisterliche Gefühle füreinander entwickelten. Die heiße, maßlose Liebe zwischen den beiden hatte niemand erwartet, und manchmal kam sie den beiden Schwestern fast ein wenig bedrohlich vor. Sie beruhigten sich mit dem Gedanken, dass die Kinder noch klein seien und sich das Problem sicherlich in der Pubertät lösen würde.
Es war eine wundervolle Kindheit, die Virginia und Michael teilten. Sie gingen gemeinsam in die Schule, machten ihre Hausaufgaben zusammen und beschützten einander vor größeren, stärkeren oder rauflustigen Kindern. Genau genommen beschützte Virginia Michael. Sie war nicht nur die Ältere, sie war auch viel selbstbewusster, lauter und unerschrockener. Michael, immer etwas zart und anfällig, hatte es schwer unter den anderen Jungen. Er wurde nicht für voll genommen und galt als Muttersöhnchen. Dass er stets von seiner energischen Cousine, die auch bereit war, die Fäuste für ihn zu schwingen, verteidigt wurde, vergrößerte sein Ansehen nicht gerade, aber wenigstens traute man sich nicht, ihn so ohne weiteres anzugreifen. Niemand mochte sich mit Virginia Delaney anlegen. Sie konnte sehr unangenehm werden, das hatten selbst die stärksten Jungs schon erleben müssen. Michael Clark stand unter ihrem Schutz. Er hätte eine schwierige Schulzeit voller Hänseleien und Demütigungen durchleben müssen, so jedoch gab es zumeist nur Getuschel hinter seinem Rücken und manch anzüglichen Blick, und beides lernte er im Lauf der Zeit zu ignorieren.
Sie gingen durch dick und dünn. Sie spielten in den kleinen Gärten hinter ihren Elternhäusern wunderbare, fantasievolle Spiele voller Abenteuer und Gefahren. Sie waren Indianer und Piraten und Prinz und Prinzessin. Sie fuhren im Sommer Rollschuh in den Londoner Parks, und im Herbst durchstreiften sie die Stadt, Hand in Hand, auf der Suche nach etwas, wovon sie nicht wussten, was es war. Sie backten Weihnachtsplätzchen zusammen und bestaunten die Spielzeugabteilung von Harrod's, und jeder sparte sein Taschengeld, um dem anderen zu
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