Das Echo der Schuld
aufwachte und nicht zu sagen wusste, wie sie dorthin geraten war. Die verschwundene Frau war außerordentlich lebensgierig gewesen und hatte dabei allzu oft jede Vorsicht außer Acht gelassen. Sie hatte das Risiko gesehen, aber ihm auszuweichen hätte Verzicht bedeutet. Sie wollte alles, und sie wollte es ohne Einschränkung.
Jede andere Lebensform hätte sie als tot sein empfunden.
Und das war immer die schlimmste Vorstellung gewesen.
Virginia warf ihre zweite Zigarette, obwohl erst zur Hälfte geraucht, auf den Asphalt, trat sie so gründlich und nachdrücklich aus, als wolle sie eigentlich etwas löschen, das in ihrem Kopf zu flackern und zu brennen begann.
Trotz der Hitze setzte sie sich ins Auto, schloss sogar Türen und Fenster. Sie war immer noch zu früh dran, sie konnte Kim noch immer nicht abholen. Sie verschränkte ihre Arme auf dem Lenkrad, ließ ihren Kopf darauf sinken. Sie wollte weinen, aber es gelang ihr nicht.
Sie hatte so lange Zeit im Auto gesessen, dass sie nun sogar ihre Tochter zu spät abholte. Alle anderen Gäste waren schon weg, das Geburtstagskind und Kim schaukelten friedlich im Garten nebeneinander. Als die Kleine begriff, dass nun auch der letzte Gast gehen sollte, fing sie zu weinen an.
»Es ist immer schwierig für ein Kind, wenn ein so schönes Fest endgültig vorüber ist«, sagte die Mutter. »Was meinen Sie, Mrs. Quentin, könnte Kim nicht noch bis morgen bleiben? Dann ist das Ende nicht so abrupt, und die beiden Mädchen könnten noch ein bisschen miteinander spielen. Schließlich bricht jetzt die letzte Ferienwoche an.«
Für gewöhnlich hätte Virginia Kim dieses Vergnügen gern gegönnt, aber in ihrer augenblicklichen Situation war es ihr gar nicht recht. Noch immer saß Nathan Moor bei ihr zu Hause herum, und sie hatte keine Ahnung, wann er zu gehen beabsichtigte. Sie mochte nicht länger mit ihm allein sein, und die Anwesenheit der kleinen Kim hätte sie als außerordentlich entspannend empfunden. Aber das konnte sie der anderen Mutter natürlich nicht sagen, und ihr fiel auch keine Ausrede ein. Zudem würde sich zwangsläufig ein anderes Problem ergeben, wenn sie Kim mitnahm: Sie konnte dann nicht länger vor Frederic geheim halten, dass Nathan bei ihr Aufnahme gefunden hatte.
Sie vereinbarten, dass Kim am nächsten Abend geholt werden sollte, und beide Mädchen brachen in ein Freudengeheul aus. Virginia wurde noch zu einer Tasse Tee eingeladen, was sie jedoch dankend ablehnte. Zwar hatte sie es nicht eilig, heimzukommen, aber es schien ihr unerträglich, nun mit dieser netten, biederen Frau, in deren Leben alles in Ordnung zu sein schien, Tee zu trinken und über Belanglosigkeiten zu plaudern. Als sie wieder im Auto saß, dachte sie jedoch darüber nach, wie sehr sie bereit war, dem Bild zu trauen, das die äußere Fassade um einen Menschen herum abgab. Woher wollte sie wissen, ob im Leben dieser Frau alles in Ordnung war? Nur weil sie in einem gepflegten Reihenhaus lebte, in dessen Garten die Blumen nach Farben angeordnet waren? Weil sie eine Dauerwelle und etwas vorstehende Zähne hatte? Weil über ihr offenbar nicht das Damoklesschwert hing, Politikergattin werden zu müssen?
Sie überlegte, welche Fassade die anderen wohl bei ihr wahrnahmen. Freundlich, aber unnahbar? Vielleicht nannten sie sie einfach arrogant. Sie nahm nie an den Aktivitäten der anderen Mütter teil, murmelte immer irgendetwas von anderen Verpflichtungen. So, wie sie eben die Einladung zum Tee abgelehnt hatte. Die Frau, in deren Leben alles in Ordnung zu sein schien, hatte traurig gewirkt. Vielleicht war sie einsam. Wo war ihr Mann an diesem Sonntagnachmittag? Virginia hatte ihn nicht gesehen.
Sie traf Nathan auf der Terrasse an, wo er im Liegestuhl lag und in einem Buch blätterte. Das Buch musste er aus der Bibliothek geholt haben, aber Virginia sagte sich, dass das in Ordnung war. Er musste nicht herumsitzen und sich langweilen. Hauptsache, er stöberte nicht wieder in Schubladen herum.
»Da sind Sie ja«, sagte er. »Sie waren lange weg. Ich fing schon an, mir Sorgen zu machen.«
»Wie spät ist es denn?«, fragte Virginia.
»Gleich halb fünf.« Er erhob sich von seinem Liegestuhl und kam auf sie zu. »Sie haben geraucht«, stellte er fest.
Irgendwie empfand sie auch diese Bemerkung schon wieder als aufdringlich, hätte aber nicht genau zu sagen gewusst, weshalb eigentlich. Daher überging sie seine Feststellung und sagte: »Kim wollte noch ein bisschen bei ihrer Freundin
Weitere Kostenlose Bücher