Das Echo der Schuld
kaufen, was dieser am meisten ersehnte. In den Sommerferien fuhren sie mit ihren Eltern zu den Großeltern ans Meer nach Cornwall, und diese Wochen in völliger Freiheit waren es, worauf sie das ganze Jahr über hinfieberten. Die Großeltern hatten ein kleines Häuschen inmitten eines großen, verwilderten Gartens, und wenn man über den hinteren Zaun kletterte und einen kleinen Pfad zwischen Ginster- und Holunderbüschen entlanglief, gelangte man an den Strand; eine kleine Bucht, in der sich stets nur wenige Menschen aufhielten. Der Sand gehörte den Kindern, und auch das Meer. Im Garten der Großeltern gab es Apfelbäume und Kirschbäume, in denen man sitzen und Obst essen konnte, bis man Bauchweh bekam. Virginia und Michael besaßen natürlich ein Baumhaus, in dem sie die Schätze ihrer Sommerferien horteten: Muscheln und seltsam geschliffene Steine, getrocknete Blumen, Bücher, aus denen der Sand rieselte und die voller Eselsohren waren, kleine Zettel, die sie einander schrieben und die voller verschlüsselter Nachrichten waren, die niemand außer ihnen verstehen konnte. In den Ferien gab es keine festen Mahlzeiten, und niemand sagte ihnen, wann sie ins Bett gehen oder dass sie ihre Füße waschen sollten. Mit Einbruch der Dunkelheit sollten sie sich daheim blicken lassen, aber es war ein Leichtes, später noch einmal aus dem gemeinsamen winzigen Schlafzimmer hinauszuklettern, über ein Schuppendach zu huschen, auf die Regentonne zu springen und in der Nacht unterzutauchen. Beide liebten sie es, unter dem Sternenhimmel noch einmal im Meer zu schwimmen, in dieser gewaltigen, schwarzen, bedrohlichen Weite, immer den Atem des anderen neben sich. Sie taten das oft, und nachher lagen sie im warmen Sand und unterhielten sich oder dämmerten einwenig vor sich hin, undmanchmal kehrten sie erst im Morgengrauen nach Hause zurück.
Es war in einer solchen sternklaren Sommernacht in ihrer verschwiegenen Bucht, als Michael Virginia zum ersten Mal küsste. Auf die Art küsste, wie es inBüchern beschrieben wurde, nicht unschuldig und geschwisterlich, wie esnatürlich schon tausendmal geschehen war. Michael war vier Wochen zuvor vierzehn geworden, Virginia bereits im Februar. Sie hatte in diesem Jahr ihre Internats- und Pferdebücher beiseite gelegt und begonnen, richtige Romane zu lesen, und zwar von der Art, die ihre Mutter möglichst nicht bei ihr finden sollte. Es ging in den Büchern um schöne Frauen und starke Männer und um all die Dinge, die sie miteinander taten. Sie hatte Michael, der zu diesem Zeitpunkt noch Bücher wie Robinson Crusoe oder Tom Sawyer liebte, davon erzählt, aber schon damals das Gefühl gehabt, dass er die Faszination nicht recht verstand, die sie trieb, Seite um Seite gierig zu verschlingen. Aber eines hatte er begriffen: dass seine Geliebte einen Punkt erreicht hatte, den er noch nicht kannte, von dem er aber instinktiv ahnte, dass er sich nicht allzu viel Zeit lassen sollte, ebenfalls dorthin zu gelangen. Sie hatte ihm genug erzählt, dass er wusste, welche Art Kuss sie ersehnte, und er gab sein Bestes.
Es war Virginias erster richtiger Kuß. Es war das erste Mal, dass sie nackt im Sand lag und ein Mann sich über sie beugte, seine Zunge in ihren Mund schob und seinen Mund mit ihrem minutenlang verschmelzen ließ. Es war genau das, wovon sie inzwischen hundertmal gelesen hatte.
Als es vorüber war, wusste sie, dass Michael nicht der Mann war, der in ihr die Gefühle zu wecken verstand, die sich in diesem Augenblick hätten einstellen müssen. Sie liebte ihn von ganzem Herzen.
Aber ihr Körper vermochte nicht auf ihn zu reagieren.
Von da an war nichts mehr wie vorher. Sie sprachen nicht darüber – es war das erste Mal, dass sie etwas, das sie beide tief beschäftigte, nicht beredeten –, aber sie spürten es beide. In stillschweigender Übereinstimmung wurde das Thema Heirat nun nicht mehr erwähnt. Und auch sonst begannen sie in dem Herbst, der jenem entscheidenden Sommer folgte, mehr und mehr getrennte Wege zu gehen. Michael blieb der introvertierte, scheue Junge, der er immer gewesen war, vertieft in eine eigene Welt, die vornehmlich aus Büchern und Musik bestand. Virginia entdeckte das Leben draußen, und je mehr sie davon sah, desto mehr wollte sie haben. Sie schminkte sich, trug kurze Röcke, war bald Teil einer großen, fröhlichen, lärmenden Clique, die durch die Pubs und Diskotheken Londons zog. Sie hatte unzählige, heftige Diskussionen mit ihrer Mutter, die ihre Aufmachung zu
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