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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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provokant fand, letztlich aber den Kürzeren zog, weil sich Virginia nicht um ihre Ansichten scherte. Sie hatte den ganzen Winter über viel Spaß, wurde sehr dünn, schlief zu wenig, ließ in der Schule nach, hatte aber Verabredungen und Verehrer ohne Ende.
    An einem nebligen Januartag erschien Michael ohne Anmeldung bei ihr und überraschte sie in ihrem Zimmer mit einer Zigarette. In der ersten Sekunde hatte Virginia geglaubt, ihre Mutter platze herein, daher drückte sie die Zigarette rasch auf einem Unterteller aus – was ohnehin sinnlos war, da überall im Zimmer der Rauch waberte.
    »Ach, du bist es«, sagte sie, als Michael den Kopf hereinsteckte, »du hast mich vielleicht erschreckt!«
    »Tut mir leid«, erwiderte Michael. Er kam herein, schloß die Tür hinter sich. Da sie inzwischen in verschiedene Schulen gingen, hatte Virginia ihn länger nicht gesehen. Er war ziemlich gewachsen, aber er wirkte mager und hohlwangig. Sie erschrak, weil er so elend aussah.
    »Was ist denn los?«, fragte sie. »Bist du krank?«
    »Du rauchst?«, fragte er, statt einer Antwort, indigniert zurück.
    »Ab und zu.«
    »Wahrscheinlich rauchen alle deine neuen Freunde.« »Die meisten.«
    »Hm.« Er war damit nicht einverstanden, das sah sie ihm an, aber er hätte sie nie offen kritisiert. Er setzte sich neben sie auf ihr Bett und starrte die gegenüberliegende Wand an.
    »Meine Eltern lassen sich scheiden«, sagte er unvermittelt.
    »Was?«
    »Meine Mutter hat es mir gestern Abend gesagt. Aber ich habe so etwas schon geahnt.«
    »Aber... wieso denn? Ich meine – was ist denn passiert?«
    »Mein Vater hat eine andere Frau kennen gelernt. Schon letztes Jahr im Oktober. Meine Mutter hat nur noch geweint seitdem. Er ist oft nachts nicht nach Hause gekommen.« Michael zuckte mit den Schultern. »Na ja, und offenbar hat die Neue gewonnen.«
    »Das ist ja ein Ding! Kennst du sie?«
    »Nein. Ich weiß nur, dass sie Amerikanerin ist und Dad mit ihr nach San Francisco ziehen will.« »Ach du Scheiße! So weit weg?«
    Michael nickte. »Ich bleibe natürlich hier bei Mum. Es ist schwer für sie … sie weint immerzu.«
    Schuldbewusst dachte Virginia, wie wenig sie sich in der letzten Zeit um die Familie gekümmert hatte. Dass sich bei den Clarks nebenan eine Tragödie abspielte, war ihr vollkommen entgangen. Aber ihren Eltern vielleicht auch, jedenfalls hatte niemand etwas gesagt.
    »Ach, Michael«, sagte sie hilflos und fühlte zum ersten Mal in ihrem Leben eine Scheu, ihn an sich zu ziehen und in den Armen zu halten, »es tut mir so leid. Ehrlich. Gar keine Chance, dass dein Vater es sich noch anders überlegt?«
    »Ich glaube nicht. Er wohnt ja schon jetzt mehr bei ihr als bei uns. Und er hat offenbar drüben in Amerika auch schon beruflich Dinge für sich in die Wege geleitet. Er will wohl nur noch weg.«
    Virginia fragte sich, wie man einen so lieben Jungen wie Michael und eine so nette Frau wie seine Mutter einfach verlassen konnte, aber offenbar gab es andere Kriterien, die das Verhalten mancher Männer bestimmten. Sie war böse auf ihren Onkel, weil er Michael so traurig machte. Aber dann überlegte sie, dass ihr Onkel vielleicht die gleichen Gründe hatte, die sie bewogen hatten, ihre Verlobung mit Michael stillschweigend zu lösen: das Fehlen jeglicher Erotik in der bestehenden Beziehung. So oberflächlich es sein mochte, sie wusste inzwischen, wie stark die Kraft der Sexualität war und von welch heftiger Sehnsucht ihr Nichtvorhandensein begleitet wurde. Vielleicht gab ihm die Amerikanerin in dieser Hinsicht etwas, das sich aus seiner Ehe längst hinausgeschlichen hatte.
    Sie litt ein wenig mit Michael, der durch ein elendes, quälendes Frühjahr ging, in dem er im Wesentlichen versuchen musste, seine weinende, völlig verzweifelte Mutter zu trösten. Aber sie litt nicht zu sehr, denn ihr eigenes Leben ging weiter, randvoll mit Erlebnissen und Ereignissen. Anfang März, einen Monat nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, schlief sie zum ersten Mal mit einem Jungen. Er war schon neunzehn, der gut aussehende, etwas blasierte Sohn einer sehr reichen Londoner Familie. Sie hatte ihn in einer Diskothek kennengelernt und behauptet, schon siebzehn zu sein, was er ihr offenbar ohne jedes Misstrauen abgekauft hatte. Nicholas besaß ein eigenes Auto, dessen Liegesitze sie als Unterlage für ihren Geschlechtsakt verwenden konnten. Virginia fand Nicholas rasend attraktiv, aber nicht sonderlich sympathisch, und schon gar nicht liebte sie ihn auch

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