Das Echo der Schuld
glaube, Sie müssen da etwas loswerden«, sagte er ernst, »oder Sie werden krank. Was immer es mit Michael auf sich hat, es quält Sie, und es beherrscht Ihr Leben. Sie müssen nicht mir davon erzählen, wenn Sie nicht wollen. Aber dann sollten Sie sich einen Therapeuten suchen und mit ihm darüber sprechen. Alleine kommen Sie mit dieser Sache nicht mehr zurecht.«
Irgendwann, zwei oder drei Jahre zuvor, hatte Frederic ihr schon einmal zu einer Therapie geraten; es war eine Phase gewesen, in der ihre Panikattacken an Häufigkeit zugenommen hatten. Das Wort Therapeut hatte sie so sichtlich entsetzt, dass Frederic von seinem Vorschlag sofort wieder abgerückt war und nie wieder davon gesprochen hatte. Auch jetzt hob sie abwehrend beide Hände.
»Nein. Ich brauche keinen Therapeuten. Im Grunde ist alles in Ordnung, es ist nur …«
»Michael«, unterbrach er mit sanfter Stimme, »es ist nur Michael, nicht wahr? Was ist mit Michael? Wer ist Michael?«
Er hatte ihr einen Einstieg geboten, den sie annehmen konnte. Er wollte wissen, wer Michael war. Sie konnte mit ihrer Kindheit beginnen, mit ihrer und Michaels Kindheit. Das war harmlos, das barg noch keine Gefahren. Sie hatte zu reden begonnen, stockend zunächst, gequält, aber dann immer fließender und freier. Die einsetzende Dunkelheit half ihr, und auch die Tatsache, dass Nathan der Versuchung widerstand, eine Lampe einzuschalten. Er war da, sie konnte seine Umrisse erkennen, konnte ihn atmen hören, aber sie musste nichts sehen von dem, was sich in seinen Gesichtszügen abspielen mochte. Irgendwann war der Regen sanftes Hintergrundgeräusch ihrer eigenen Stimme. Sie konnte von Dingen sprechen, die sie noch nie zuvor einem anderen Menschen anvertraut hatte: von ihrer wilden, freien Jugend, ihrer Lebensgier, ihrem Leichtsinn, ihrer Rücksichtslosigkeit, ihrer Neugier. Sie konnte von den Männern erzählen, die sie gehabt und wieder abgelegt hatte, von den Irrwegen, die sie gegangen war, von den unguten Dingen, die sie ausprobiert hatte. Nathan unterbrach sie nicht, aber sie konnte spüren, dass er sehr genau zuhörte. Und über allem, was sie sagte, hing das Wort jung.
Ich war jung. Alles war verzeihbar. Ich war so jung.
Sie brach ab, als Andrew Stewart auftauchte. Denn von da an war sie nicht mehr jung gewesen. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie den harten Einschnitt an dieser Stelle vornahm. Vielleicht war es einfach ein Gefühl. Mit Andrew Stewart war sie erwachsen geworden. Nicht weniger wild, nicht weniger leichtfertig. Und doch erwachsen.
»Wie alt waren Sie, als Sie Stewart kennen lernten?«, fragte Nathan. Es war das erste Mal seit Stunden, dass er sein Schweigen brach. Er hatte ihren letzten Worten eine Weile nachgelauscht, dann aber verstanden, dass sie vorerst nichts mehr sagen würde.
»Zweiundzwanzig«, sagte sie, »ich war zweiundzwanzig Jahre alt.«
»Eine zweiundzwanzigjährige Studentin, die schon eine Menge vom Leben ausprobiert hatte. Nicht wahr?«
Sie nickte, obwohl er das nicht sehen konnte.
Er schien es zu ahnen. »Das Mädchen, das Sie beschrieben haben«, sagte er, »dieses Mädchen passt zu der Fotografie. Wie schön Sie waren, Virginia. Und wie unglaublich lebendig!«
»Ja«, sagte sie. »Lebendig. Wenn ich heute an diese Zeit denke, ist es das, was ich am allerstärksten empfinde: Leben. Ich habe so ungeheuer intensiv gelebt.«
»Andrew Stewart war auch Student?«
»Nein. Er war bereits fertiger Rechtsanwalt. Fing gerade an, in einer sehr renommierten Kanzlei in Cambridge zu arbeiten. Sein Vater hatte ihn dort untergebracht. Die Stewarts hatten einflussreiche Bekannte. Wir trafen uns bei der Promotionsfeier einer Freundin von ihm, die wiederum mit irgendeinem Freund von Michael bekannt war. Ich war aber allein dorthin gegangen, weil Michael die Grippe hatte. Wir kamen ins Gespräch und … alles änderte sich.«
Sie hörte, dass Nathan aufstand. Er bewegte sich geschickt und ohne zu stolpern durch das dunkle Zimmer. Er knipste die kleine Lampe an, die am Fenster stand. Das Licht flammte so plötzlich auf, dass Virginia für einen Moment geblendet die Augen schloss, aber es war ein weicher, gedämpfter Schein, den sie nicht als unangenehm empfand.
»Wir müssen ja nicht ohne Licht hier sitzen«, sagte Nathan. Groß und dunkel stand er vor dem Fenster. Ein Fremder. Ein völlig Fremder.
Warum erzähle ich diesem Mann so viel von mir?
Er kam ein paar Schritte näher, setzte sich aber nicht mehr hin.
»Und es war Liebe
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