Das Echo der Schuld
schließlich Ihr Auto ausgeliehen!«
Sie kam sich albern vor. »Ich dachte nur … Sie wirkten so ausgeglichen. Ich glaube, wenn mein Mann mit einem schweren Schock im Krankenhaus läge, wäre ich ziemlich bedrückt.«
»Das würde aber an der Situation nichts ändern.«
»Nein. Natürlich nicht.« Betont gleichmütig fügte sie hinzu: »Was sagen eigentlich die Ärzte? Sie haben doch bestimmt mit einem Arzt gesprochen, oder? Wann wird es Ihrer Frau besser gehen?«
Diesmal zuckte er wirklich mit den Schultern. »Da hält man sich mit den Prognosen ziemlich zurück. Denen ist es ja erst einmal wichtig, sie körperlich wieder aufzubauen. Für die Psyche wird man dann wohl eine andere Art von Klinik brauchen.«
»Meinen Sie, sie muss in eine psychiatrische Klinik?«
»Vielleicht. Ich würde es nicht ausschließen. Sie war psychisch schon immer … ziemlich labil. Diese Geschichte nun ist natürlich eine Katastrophe für sie.«
Virginia überlegte krampfhaft, wie sie das Thema Rückkehr nach Deutschland am besten anschneiden könnte, vielleicht mit einer Frage nach guten deutschen Kliniken … Oder sollte sie direkt auf die deutsche Botschaft zu sprechen kommen … Oder ihn ganz unmittelbar fragen, wann er denn nun die Heimreise anzutreten gedenke …
Doch während sie noch nachdachte und mit ihren Hemmungen rang, sagte er auf einmal unvermittelt: »Hier in der Gegend ist schon wieder ein kleines Mädchen verschwunden.«
»Was?«
»Ich hatte den Fernseher an, während ich das Frühstück machte. Sie berichteten über ein Kind, das kürzlich hier in der Gegend gekidnappt und wenig später ermordet aufgefunden wurde. Und seit gestern wird schon wieder eines vermisst.«
»Das ist ja entsetzlich!« Sie starrte ihn an, vergaß völlig ihre Absicht, ihn auf irgendeine Weise hinauszukomplimentieren. »Ein Mädchen aus King's Lynn?«
»Ja. Sie nannten den Namen, aber ich weiß ihn nicht mehr. Sie wollte zum Kindergottesdienst gehen, kam dort aber nie an. Und ist wohl seither auch nicht mehr aufgetaucht.«
»Wie furchtbar! Wie furchtbar für die Eltern!«
»Wann holen Sie Ihre Tochter ab?«
»Heute Abend.«
Sie schob sich die nächste Gabel Rührei in den Mund, aber obwohl sie es zuvor köstlich gefunden hatte, schmeckte es ihr plötzlich nicht mehr. »Ich dürfte Kim eigentlich keinen Moment mehr aus den Augen lassen.«
»Bei der anderen Familie und in Gesellschaft eines weiteren Kindes wird ihr schon nichts passieren«, sagte Nathan beruhigend, »und hier bei Ihnen auch nicht. Aber sie sollte alleine keine längeren Wege unternehmen.«
»Auf keinen Fall.« Sie schob ihren Teller weg. »Nathan, Ihr Rührei schmeckt fantastisch, aber ich fürchte, ich kann im Moment nichts mehr essen. Ich …«
Er sah sie besorgt an. »Ich hätte jetzt nicht davon anfangen sollen.«
»Ich hätte doch sowieso davon gehört.«
»Was tun Sie heute Morgen? Was tun Sie an so einem kühlen, verregneten Morgen?«
»Ich weiß es nicht. Heute Nachmittag werde ich auf jeden Fall nach King's Lynn fahren. Ich möchte etwas einkaufen. Dann werde ich Livia besuchen. Und dann Kim abholen.«
Er nickte. »Ein guter Plan.«
Sie hielt sich an ihrer Kaffeetasse fest. Das Porzellan war heiß, die Wärme schien sich von ihren Händen aus langsam über den ganzen Körper auszubreiten; ein tröstliches, beruhigendes Gefühl. Der Wetterumschwung deprimierte Virginia, auf einmal kam ihr das Haus, ihre geliebte, vertraute Höhle, düster und kalt vor. Dazu die Nachricht von dem verschwundenen Mädchen, Frederic mit seinem Drängen und seiner Gereiztheit, das Gefühl, dass sie sich mit Nathan und Livia in etwas verstrickt hatte, das sich zunehmend ihrer Kontrolle entzog … Ja, der einzige Trost war tatsächlich diese Tasse mit schönem, heißem Kaffee und die Wärme, die der Herd noch verströmte, nachdem Nathan die Eier darauf gebraten hatte.
Nathan neigte sich vor. In seinen Augen standen Anteilnahme und aufrichtiges Interesse.
»Es geht Ihnen nicht gut, nicht wahr?«
Sie atmete tief. »Doch. Ich habe nur ein paar Probleme, das ist alles.«
»Ein paar Probleme? Die müssen schwerwiegend sein, sonst würden Sie nicht so traurig aussehen.«
Etwas gereizt gab sie zurück: »Es sind meine Probleme!«
»Pardon!« Er lehnte sich wieder zurück, stellte den ursprünglichen Abstand zu ihr her. »Ich möchte nicht zudringlich erscheinen.«
»Schon gut. Es ist nur …« Sie stockte schon wieder. Es war ein guter Moment. Er hatte das Wort zudringlich
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