Das Echo der Schuld
teil, las endlich die Bücher, die sie während ihrer Pubertät zugunsten anrüchiger Liebesgeschichten übersehen hatte.
Sie feierte und trank ein wenig zu viel und schlief zu wenig, und gelegentlich flirtete sie auf Partys mit anderen Männern, was zu heftigen Auseinandersetzungen mit Michael führte. Soweit Michael überhaupt in der Lage war zu streiten. Er jammerte und klagte, und Virginia wurde aggressiv. Denn letztendlich war sie ihm treu. Sie fand es langweilig, mit ihm zu schlafen, aber sie probierte niemand anderen aus. Sie fühlte sich bei ihm geborgen, und über eine gewisse Zeit mochte sie diese Geborgenheit auch nicht zugunsten irgendeines schnellen Verhältnisses aufgeben.
Und dann traf sie Andrew Stewart, und genau wie in jenem Sommer viele Jahre zuvor, als ihre wunderbare Kindheit mit Michael plötzlich geendet hatte, veränderte sich auch diesmal ihr Leben wieder völlig.
Sie war ihrer großen Liebe begegnet.
5
Es war so dunkel im Zimmer geworden, dass sie einander nur noch schattenhaft erkennen konnten. Draußen vor den Fenstern rauschte der Regen. Der angekündigte Wetterumschwung war eingetreten. Der Sommer hatte seinen Abschied genommen.
Nachdem sie sich wieder und wieder übergeben hatte, hatte sie eine ganze Weile warten müssen, ehe sie sich wieder bewegen konnte, dann war sie ins Bad gegangen, hatte sich das Gesicht gewaschen und sich minutenlang die Zähne geschrubbt, um den widerlichen Geschmack von Erbrochenem in ihrem Mund zu beseitigen. Noch immer war ihr das bleiche Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen darin wie das einer Fremden erschienen.
Was geschieht mit mir? Es war doch alles in Ordnung!
Aber eigentlich war nichts in Ordnung gewesen, das wusste sie, doch was immer in ihr an Unbewältigtem geschlummert hatte, sie hatte es unter Kontrolle gehabt. Irgendwie war es ihr seit Jahren gelungen, nicht mehr an Michael zu denken. Überhaupt an etwas zu denken, was vor ihrer Zeit mit Frederic Quentin lag. Seitdem jedoch die beiden Deutschen aufgekreuzt waren, besonders Nathan …
Sie hätte auf Frederic hören und die Finger von den beiden lassen sollen. Frederic hatte keine Ahnung von der Lawine gehabt, die losgetreten werden könnte, aber ein Instinkt musste ihn gewarnt haben. Er hatte mit mehr Vehemenz abgeraten, als sie sie sonst bei ihm kannte.
Ich sollte jetzt hinübergehen und Nathan Moor bitten, endlich zu verschwinden. Und möglichst nie wieder hier aufzutauchen.
Das allein, so viel war klar, hätte ihre Probleme jedoch nicht gelöst. Denn nicht nur Nathan Moor war es, der ihr Schwierigkeiten machte. Ihre Kopfschmerzen, ihr Zusammenbruch waren von Frederic ausgelöst worden. Frederic in seiner Geduld, in seiner Wertschätzung all dessen, was sie tat oder nicht tat, war unverzichtbarer Teil ihres Verdrängungsprogramms gewesen. Dass er plötzlich Forderungen stellte, ärgerlich wurde, ihre Loyalität einforderte, hatte das Gerüst ins Wanken gebracht. Der Zusammenbruch hatte begonnen. Sie würde ihn bereits jetzt nicht mehr aufhalten können.
Sie war in die Küche zurückgegangen, aber Nathan war nicht mehr dort gewesen. Sie hatte ihn im Wohnzimmer angetroffen, wo er sich gerade einen Sherry einschenkte. Er tat das so selbstverständlich und gelassen, als wohne er seit Jahren in diesem Haus und bewege sich dort ganz unbeschwert. Diesmal empfand Virginia deswegen keinen Ärger. Diesmal vermittelte ihr sein Verhalten sogar ein Gefühl der Sicherheit.
»Geht es Ihnen besser?«, fragte er, und sie nickte, wehrte aber ab, als er ihr ebenfalls einen Sherry anbieten wollte. »Nein, danke. Ich fürchte, das schafft mein Magen noch nicht.«
»Sie wollten mir von Michael erzählen«, sagte er sachlich.
Sie hatte sich auf das Sofa gesetzt und die Beine hochgezogen, sie wie einen Schutzschild vor sich gestellt und mit beiden Armen umklammert. Sie hatte gehofft, er würde sich diesmal nicht neben sie setzen wie vorhin, als er ihren Nacken massiert hatte, und er schien das zu spüren, denn er wählte einen Sessel ihr gegenüber, so dass der breite hölzerne Couchtisch zwischen ihnen stand. Zuerst hatte sie nicht gewusst, wie sie anfangen sollte, und fast hätte sie ihn gebeten, das alles zu vergessen und so zu tun, als habe er den Namen Michael nie gehört. Aber kaum war sie so weit, einen Rückzieher machen zu wollen, meldete sich der Kopfschmerz wieder, leise und bohrend, und ihr Körper verkrampfte sich.
Nathan neigte sich vor und sah sie eindringlich an. »Ich
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