Das Echo der Schuld
gewesen als ihr Toben. Am Montagabend war dann eine Psychologin der Polizei erschienen, um ihre Betreuung anzubieten, und das war der Moment gewesen, da auch Roberts Nerven versagten.
»Unsere Tochter wird seit gestern Vormittag vermisst!«, hatte er die junge Frau angebrüllt. »Gestern am frühen Nachmittag haben wir die Polizei verständigt. Inzwischen sind zweiunddreißig Stunden vergangen, in denen wir hier völlig allein diese Katastrophe durchzustehen versuchten. Und jetzt, jetzt, da meine Frau nur noch lallt wie ein Kleinkind, weil sie so viele Spritzen bekommen hat, jetzt hält man es endlich mal für angebracht, uns einen Psychologen vorbeizuschicken?«
»Nun mäßigen Sie sich bitte!«, hatte die Psychologin energisch gemahnt, aber dann war ihr Blick auf Claire gefallen, die fürchterlich aussah. Das Gesicht mit blutigen Kratzern übersät, die Hände und Handgelenke voller Blutergüsse, die in allen Farben, vom dunklen Blau bis zum schreienden Lila, schimmerten. Sie versuchte immerzu etwas zu sagen, schaffte es jedoch nicht, die Buchstaben in ihrem Mund zu formen. Ihre Unterlippe hing schlaff herab und unterlag offenbar nicht mehr ihrer Kontrolle.
»Großer Gott! Ihre Frau ist ja entsetzlich zugerichtet!«
Robert strich sich mit der Hand über sein müdes, blasses Gesicht. Er hatte seine Beherrschung wiedergefunden. »Entschuldigen Sie. Es ist ja gut, dass Sie überhaupt da sind. Ja, es geht Claire sehr schlecht. Sie hat ständig Panikanfälle. Am Sonntag ging es noch, aber seit es draußen regnet und so viel kälter geworden ist …«
»Ich verstehe«, sagte die Psychologin.
»Ich bin noch froh, dass ich sie hindern konnte, sich selbst mit einem Messer zu attackieren. Der Arzt hat sie ruhig gestellt, aber es … es ist …« Seine Stimme hatte gezittert. Er gehörte nicht mehr zu der Generation von Männern, der man beigebracht hatte, auf keinen Fall je zu weinen, dennoch schien es ihm im Moment ganz ausgeschlossen, Tränen zuzulassen. Vielleicht, weil Claire so übel dran war und er daher meinte, stark bleiben zu müssen. Vielleicht auch, weil er ahnte, dass ihn sein Schmerz und seine Angst hinwegtragen würden, ließe er sie erst ausbrechen, und dass er dann irgendwann so dasitzen würde wie Claire.
Und Rachel findet zwei lallende Eltern vor, wenn sie heimkommt, und das geht doch nicht!
»Wo ist Ihre andere Tochter?«, wollte die Psychologin wissen. Sie hatte sich offenbar informiert. »Sie haben doch noch ein jüngeres Kind, nicht?«
»Ja. Sue. Sie ist bei der Schwester meiner Frau in Downham Market. Wir hielten es für besser, dass sie nicht so genau miterlebt …«
»Das ist absolut vernünftig!«
Die Psychologin, die Joanne hieß, hatte einen Imbiss zubereitet und darauf bestanden, dass Robert etwas aß. Draußen senkte sich die Dunkelheit über den Garten. Der Regen rauschte. Der zweite Abend ohne Rachel. Der zweite Abend, an dem sie nicht wussten, wo sie sich aufhielt. Robert hasste sich fast dafür, dass er im Trockenen saß und eine Scheibe Brot und eine Tomate aß. Er trank drei Gläser Wein, und das war das Einzige, was ihm an diesem furchtbaren Tag ein wenig half.
Es hatte ihm gut getan, mit einem ruhigen, gefassten Menschen zu sprechen. Joanne schien etwas von ihrem Job zu verstehen, denn es gelang ihr, ihm ein wenig Frieden zu geben. Sie hatten über die Möglichkeit einer Entführung gesprochen.
»Hält die Polizei das für möglich?«, hatte sie gefragt, und Robert hatte tief und traurig geseufzt.
»Zum jetzigen Zeitpunkt«, sagte er, »schließen die wohl gar nichts aus. Aber Tatsache ist, dass es bislang weder einen Brief noch einen Anruf von möglichen Erpressern gibt. Und ehrlich gesagt …«
»Ja?«
»Ich kann mir nicht so recht vorstellen, dass man ausgerechnet unsere Familie aussucht, wenn man an Geld kommen will. Wir sind alles andere als reich. Das Haus ist noch lange nicht abbezahlt. Ich verkaufe EDV-Programme an Firmen, richte sie ein und halte Schulungen für die Mitarbeiter ab. Ich verdiene je nach Umfang und nach Auftragslage, und die Zeiten sind nicht allzu gut. Claire kümmert sich hauptsächlich um die Kinder und verdient sich ab und zu etwas mit Theaterkritiken für die Lynn News dazu. Es geht uns nicht schlecht, aber …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Irgendwie wusste er, dass niemand kommen würde, um Geld zu verlangen.
»Wissen Sie«, sagte er verzweifelt, »abgesehen davon, dass ich aus tiefster Seele wünschte, Rachel säße jetzt hier bei
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