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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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aber sie meinte plötzlich, die hoch gewachsene Gestalt mit den dunklen Haaren und den breiten Schultern in dem zu engen T-Shirt unter Tausenden heraus erkennen zu können: Nathan Moor. Es musste Nathan sein. Was tat er hier? Wie war er von Ferndale ohne Auto in die Stadt gekommen? Und weshalb? Als sie wegging, hatte er nichts davon erwähnt, er hatte den Anschein erweckt, als ob …
    Ja, was? Genau genommen hatte er überhaupt keinen Anschein erweckt. Sie hatte einfach vorausgesetzt, dass er im Haus bleiben, vielleicht einen Spaziergang durch den Park machen und sich dann mit einem Buch auf das Sofa im Wohnzimmer zurückziehen würde. Im Grunde hatte es dafür so wenig einen Anhaltspunkt gegeben wie für irgendetwas anderes. Blieb die Frage nach dem Wie. Natürlich hätte er es zu Fuß schaffen können, aber das hätte einen fast einstündigen Marsch bedeutet, bei dem sintflutartigen Regen eine alles andere als verlockende Vorstellung. Oder ob er auf Jack getroffen war, der ebenfalls in die Stadt wollte und sich angeboten hatte, ihn mitzunehmen? Der Gedanke behagte ihr gar nicht, denn dann wussten die Walkers jetzt, dass ein fremder Mann in Frederics Abwesenheit bei ihr wohnte. Spätestens mit Kims Rückkehr würde die Angelegenheit zwar ohnehin publik werden, aber Virginia hatte gehofft, wenigstens die Tatsache verheimlichen zu können, dass Nathan bereits seit Samstag da war.
    Sie stand kurz in der Versuchung, in den Parkplatz einzubiegen, der sich gleich hinter dem Coffeeshop befand, ihr Auto abzustellen und nachzusehen, ob es sich bei dem Mann wirklich um Nathan handelte. Aber dann überlegte sie, dass dies ein peinliches Zusammentreffen geben könnte. Sie hatte kein Recht, ihn zu kontrollieren oder Rechenschaft über seinen Tagesablauf zu verlangen. Er konnte in Cafes sitzen, solange er wollte. Sie würde einfach heute Abend beiläufig erwähnen, dass sie glaubte, ihn in der Stadt gesehen zu haben. Entweder er bot ihr eine plausible Erklärung, oder er stritt es ab. Vielleicht war es ihm auch einfach peinlich, fröhlich irgendwo einen Kaffee zu trinken, anstatt am Krankenbett seiner Frau zu wachen. Es zog ihn deutlich nicht allzu sehr zu ihr hin.
    Und auch seine Ehe geht mich überhaupt nichts an, dachte Virginia.
    Am Ende war er es auch gar nicht gewesen. Schon jetzt war sie sich da keineswegs mehr sicher.
     

Dienstag, 29. August
     
    1
     
    Als drei Polizeibeamte am Dienstag früh um Viertel nach sieben an der Haustür klingelten, wusste Claire Cunningham natürlich sofort, dass dies in einem Zusammenhang mit Rachel stand. Die Mienen der drei Männer verhießen nichts Gutes, dennoch klammerte sich Claire ein paar wenige Sekunden lang an die aberwitzige Hoffnung, man werde ihr nun mitteilen, die Kleine sei gefunden worden, sie habe sich verlaufen gehabt, sei aber wohlauf und werde gerade von einem Polizeiarzt untersucht.
    Alles in Ordnung, Mrs. Cunningham. So sind Kinder nun einmal. Plötzlich von der Abenteuerlust gepackt, laufen sie irgendwohin und achten nicht auf den Weg, und ehe sie sich versehen, ist es dunkel, und sie haben keine Ahnung mehr, wo es nach Hause geht!
    Sie hatte zwei Tage und zwei Nächte nicht geschlafen, abgesehen von einem kurzen, erschöpften Einnicken am späten Montagnachmittag, aus dem sie jedoch viel zu schnell und kein bisschen gestärkt erwacht war. Der Regen des gestrigen Tages hatte sie in eine solche Panik gestürzt, dass zweimal der Arzt hatte kommen und ihr eine Spritze geben müssen.
    »Siehst du den Regen? Siehst du den Regen?«, hatte sie geschrien. Sie war auf die Knie gesunken, hatte mit den Fäusten auf den Boden geschlagen, den körperlichen Schmerz suchend, um für Sekunden Linderung in ihrer inneren Qual zu finden. Robert, ihr Mann, hatte vergeblich versucht, sie daran zu hindern. »Mein Kind ist da draußen! Mein Kind ist da draußen im Regen! Mein Kind ist da draußen im Regen!« Sie hatte diesen Satz ständig wiederholt, hatte ihn schließlich geröchelt, weil ihre Stimme keine Kraft mehr hatte. Als sie anfing, sich mit allen zehn Fingernägeln durchs Gesicht zu fahren, hatte Robert den Arzt, der beim ersten Zusammenbruch am frühen Morgen schon einmal da gewesen war, noch einmal angerufen. Nach den Spritzen wurde Claire ruhiger, aber der Ausdruck vollkommener Verzweiflung in ihren Augen, ihre schwerfälligen Bewegungen dazu und ihre Bemühungen, etwas zu sagen, das sie dann doch nicht formulieren konnte, waren für ihren Mann fast noch schlimmer zu ertragen

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