Das Echo der Schuld
Hände ständig vibrierten. Sie schienen von ihr genervt zu sein.
»In erster Linie muss sie aufgepäppelt werden«, erwiderte Virginia. Sie hätte die beiden Weiber gern ignoriert, fand aber, dass man Livia zuliebe um ein wenig Verständnis werben musste. »Um ihre Seele kann man sich später kümmern.«
»Die hat sich noch nicht einmal gemuckst, seitdem sie hier ist«, sagte die andere Frau, »und sie wackelt ständig mit den Händen! Man wird ganz nervös vom Zugucken!«
Virginia wandte sich wieder zu Livia, strich ihr sanft über die Haare. »Es kommt alles in Ordnung«, sagte sie leise.
Sie hoffte, dass Livia hören und begreifen konnte, was sie sagte.
»Nathan wohnt im Moment bei uns«, erklärte sie. Sie sagte absichtlich uns, damit Livia nicht auf falsche Gedanken kam. Sie brauchte nicht zu wissen, dass Frederic in London war. Obwohl sie derartige Details vielleicht gar nicht interessierten. Sie schien sich in einem Dämmerzustand zu befinden, der sie in einer anderen Welt festhielt.
Virginia saß noch eine Weile neben ihr und streichelte ein paar Mal über die zuckenden Hände, aber schließlich schloss Livia ihre Augen wieder, und es schien unerheblich, ob jemand an ihrem Bett saß oder nicht.
Als Virginia aufstand, fragte eine der Zimmergenossinnen neugierig: »Stimmt es, dass sie beinahe ertrunken wäre? Oben vor den Hebriden?«
»Ihr Schiff ist mit einem Frachter kollidiert«, bestätigte Virginia.
»Sie hat ja einen unheimlich gut aussehenden Mann«, meinte die andere, »Teufel noch mal, als der gestern hier hereinkam, habe ich mir nur noch gewünscht, zwanzig Jahre jünger zu sein! Der hat einen Sexappeal … Ist ganz schön gefährlich, finde ich. So einen Mann zu haben und dann hier zu liegen und nichts mehr mitzubekommen! Würde mich ziemlich nervös machen!«
Die andere kicherte anzüglich. »Du meinst, der nutzt die Zeit, um …«
»Na, so einer wird doch garantiert andauernd angemacht! Mit dem Gesicht und der Figur … Den jagen die Frauen doch förmlich!«
Beide lachten. Virginia murmelte einen kurzen Gruß und verließ rasch das Zimmer. Die Begegnung mit Livia hatte sie erschüttert, das Gerede ihrer beiden gewöhnlichen Zimmergenossinnen sie aufgewühlt. Sie blieb stehen, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, atmete tief. War Nathan Moor ein Mann, der auf Frauen so intensiv wirkte, dass sie sich in infantil kichernde Geschöpfe verwandelten, so wie die beiden da drinnen eben?
Hat er auf mich auch diese Wirkung?
Sie hatte natürlich längst realisiert, wie gut er aussah. Das hatte sie schon in Mrs. O'Brians gemütlicher Küche auf Skye getan. Er war zur Tür hereingekommen, und obwohl er, genau wie seine bleiche, zittrige Frau, nur einen Tag zuvor knapp dem Tod von der Schippe gesprungen war und nichts weiter auf dieser Welt besaß als die Sachen, die er am Leib trug, hatte er eine überwältigende Energie, ein unerschütterliches Selbstbewusstsein ausgestrahlt. Braun gebrannt, die etwas zu langen, dunklen Haare lässig aus dem Gesicht gestrichen, hätte er auch ein entspannter Urlauber sein können, der gerade von einem ausgedehnten Strandlauf kam, und nicht ein Mann, dessen gesamtes Hab und Gut soeben auf den Meeresgrund gesunken war. Ihr fiel das Bild vom frühen Morgen des heutigen Tages ein: Nathan in Frederics T-Shirt, die breiten Schultern, die kaum Platz in dem Hemd fanden.
Ich sollte mich nicht so lange mit ihm zusammen allein in einem Haus aufhalten.
Es war gut, dass Kim heute zurückkehrte. Es war sogar gut, dass sie, Virginia, am Freitag nach London fahren würde, so elend es ihr noch immer bei der Vorstellung wurde. Ob er dann gehen würde? Oder glaubte er, er könne allein in ihrem Haus bleiben, während sie bei ihrem Mann in London war? Wenn sie das zuließ, würde sie ernsthaften Ärger mit Frederic bekommen, und das war auch verständlich. Aber nachdem sie nun gerade Livia gesehen hatte, erschien es ihr tatsächlich nicht einfach für Nathan, mit ihr nach Deutschland zurückzukehren. War sie überhaupt transportfähig? Konnte man ihr schon wieder eine Veränderung ihrer Umgebung zumuten?
Sie beschloss, noch an diesem Abend mit Nathan darüber zu sprechen. Wenn er Livias wegen weiterhin in King's Lynn bleiben wollte, musste er in ein Hotel gehen. Und wovon sollte er das bezahlen? Notfalls musste sie ihm eben noch einmal etwas leihen. Aber konnte er nicht seinen Verleger um Geld bitten? Als ein erfolgreicher Autor mussten schließlich ständig Zahlungen für
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