Das Echo der Vergangenheit
sie nicht seine Mom?«
»Ja, aber wir konnten sie nicht mehr besuchen, weil sie ihm kein Geld gegeben hat.«
»Brauchte er denn Geld?« Sie sah sich in dem verwüsteten Haus um.
»Manchmal hat er viel und manchmal müssen wir umziehen.«
»Und im Moment?«
»Er hat eine neue Arbeit. Aber er wird die Leute leid und findet Gründe zu gehen, damit es so aussieht, als wäre es ihre Schuld.«
Sofie wandte sich ab. Das musste einen Nerv getroffen haben. Er hoffte, sie begriff, dass das, was geschehen war, auch nicht ihre Schuld gewesen war.
»Er hat also mit deiner Grandma gesprochen. Und dann?«
Carly holte zitternd Luft. »Sie muss gestolpert sein.«
»Sie ist die Treppe hinuntergefallen?«
Er dachte an Annie, die mit weichen Knochen gestürzt war und trotzdem Verletzungen davongetragen hatte. Er wusste nicht, wie alt Grandma war, aber selbst eine Person mittleren Alters hätte auf der langen Treppe schwere Verletzungen davongetragen.
Tränen kullerten über Carlys Wangen. »Ich habe sie schreien und fallen gehört.«
»Was hat sie denn geschrien?«
»Einfach … geschrien.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Dann hat sie geweint.«
»Hat dein Dad Hilfe geholt?«
»Ich weiß nicht. Er ging durchs ganze Haus und hat Türen und Schubladen aufgemacht.«
»Hat er nach Geld gesucht?«
»Ich dachte, er sucht mich.«
»Hat er Hilfe gerufen, nachdem er mit dem Suchen fertig war?«
»Ich weiß nicht. Es ist aber niemand gekommen.«
»Und was ist dann passiert?«
»Es wurde ganz still. Und ich habe gewartet.«
»Worauf?«
Carlys Antwort war kaum zu hören. »Darauf, dass er geht.«
Matt und Sofie wechselten einen Blick. Sie waren spät abends vorbeigekommen, und auch wenn das Haus friedlich erschienen war, hatte die alte Frau voller Schmerzen dort gelegen, während das Kind erschöpft vor Angst im Wandschrank gekauert hatte. Warum hatte Carly nicht um Hilfe gerufen? Hatte sie zu viel Angst davor gehabt, dass ihr Vater noch im Haus war?
Eric hatte seiner Mutter körperliche Verletzungen zugefügt. Vielleicht glaubte er, dass die verletzte Frau ihn nicht anzeigen würde. Vielleicht würde sie das auch nicht. So oder so hatte seine Tochter nicht riskiert, entdeckt zu werden – nicht einmal, um ihrer Großmutter zu helfen.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, blickte Carly zu Peggy Mantero auf. »Wird Grandma wieder gesund?«
»Ich weiß nicht. Sobald ich etwas weiß, werde ich es dir sagen. Aber du musst mir auch etwas sagen, Carly. Ich kann nämlich nicht verstehen, dass ein Mann, der seine Mutter die Treppe hinunterstoßen kann, nicht auch manchmal seiner Tochter wehtut. Und ich meine nicht nur, indem er deine Freundschaften kaputt macht.«
Carly schüttelte heftig den Kopf. »Er hat mich noch nie geschlagen oder … irgendwas.«
Die Beamtin weigerte sich, das zu glauben. »Vielleicht ist er dir zu nahe gekommen. Vielleicht macht er andere Sachen.«
Wieder das leidenschaftliche Leugnen. »Er liebt mich. Aber nicht so.«
Schweigen von der Polizistin.
Carlys Finger krallten sich um die Schachtel, nach der Peggy Mantero erstaunlicherweise nicht gefragt hatte. »Wenn er wütend ist, dann bestraft er mich … indem er anderen Leuten wehtut.«
Die Beamtin zog die Augenbrauen hoch, als Carly ihr den Karton zuschob. »Das hier habe ich gefunden. Deshalb konnte ich nicht mit ihm sprechen. Ich hatte Angst. Aber nicht, weil er mir wehgetan hat, sondern weil er ihnen wehgetan hat.«
* * *
Sofie sog scharf die Luft ein, als eine Ahnung sie überraschte. Sechs Jahre lang hatte sie geglaubt, Eric wollte sie bestrafen. Hatte er stattdessen sein kleines Mädchen bestraft, weil sie es einfach gewagt hatte, jemand anders zu lieben? Hatte er deswegen die eine Person verstoßen, die Carly vielleicht noch lieber hatte als ihn?
Sie senkte den Blick, um die plötzlich aufsteigenden Tränen zu verbergen, und so entging ihr Peggy Manteros Reaktion auf die Fotos. Erst allmählich wurde ihr der Inhalt dieser Schachtel richtig bewusst. Konnte Eric wirklich – aber das hatte er. Und er hatte es sogar dokumentiert. Warum? Gewiss nicht, damit Carly es sah. Sie war sich völlig sicher, dass er das nie beabsichtigt hatte. Aber wenn die Fotos nur für Eric gedacht waren, fungierten sie dann als eine Art Verurteilung … oder als Belohnung?
Innerlich stöhnte sie auf. Wie konnte sie das mit jemandem in Einklang bringen, der ihr das Gefühl gegeben hatte, geschätzt und wichtig zu sein? Oder war das auch eine Obsession?
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